Hochgespannt waren die Erwartungen am Premierenabend des 20. April 2024 mit einer neuen Giselle von Mario Schröder im Opernhaus. Es war die letzte Arbeit des Chefchoreografen und Ballettdirektors, der nach 14 Jahren in seiner Funktion vom Intendanten des Opernhauses nicht verlängert wurde. Diese Entscheidung hatte bereits im Vorfeld der Premiere für kontroverse Diskussionen gesorgt und solche gab es auch nach der Aufführung. All jene Besucher, die gehofft hatten, das wohl berühmteste romantische Ballett zu sehen mit der jungen, naiven Giselle, die am Betrug des geliebten Mannes zugrunde geht, wurden zu Recht enttäuscht. Denn statt der tragischen Liebesgeschichte mit dem in seiner Magie unvergleichlichen nächtlichen Waldbild erlebte man eine Abhandlung über das Unrecht, welches seit Urzeiten Frauen von Männern angetan wird. Ein Handlungsfaden entsprechend der originalen Vorlage von Théophile Gautier war nicht erkennbar, bekannte Figuren (Albrecht, Hilarion, Myrtha) fehlten völlig oder waren nur in Andeutungen auszumachen.
Schröders Fassung ist eine choreografische Mixtur aus Zitaten des Originals von Jules Perrot und Jean Coralli mit Elementen des modernen Ausdruckstanzes. Man sieht Arabesquen, grand jetés, Pirouetten, kombiniert mit expressiven, hektischen Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer – zuckend, stürzend, taumelnd, fallend, kriechend, ergänzt um Duo-Aktionen, wenn Frauen von Männern als Ausdruck des Missverhältnisses zwischen den Geschlechtern gehoben, geworfen, gedreht und zu Boden geschleudert werden. Originell ist ein Gruppenbild mit sportivem Charakter, bei dem die Tänzer mehrere T-Shirts übereinander tragen und jedes einen anderen Buchstaben zeigt. Durch wechselnde Gruppierungen ergeben sich immer neue Begriffe, wie MACHT, ANGST, SEELE, CHANGE, MALE und FEMALE. Überhaupt hinterlassen die Szenen mit dem großen Corps de ballet in ihrer choreografischen Erfindungskraft wie der synchronen Ausführung der Vorgabe tänzerisch starken Eindruck.
Eine einzige Interpretin weist das Programmheft namentlich aus: Yun Kyeong Lee in der Titelrolle. Die aus Südkorea stammende Tänzerin gehört seit 2018 zur Compagnie und hat mit der Giselle ihre bisher größte Aufgabe übertragen bekommen. Sie meistert diese Herausforderung blendend, sowohl in der Absolvierung des klassischen Vokabulars als auch in der Bewältigung der zeitgenössischen Elemente. Grandios gestaltet sie ihre Wahnsinnsszene – packend in der Dramatik, ergreifend im tranceartigen Ausdruck.
Fatal war die Entscheidung, Adolphe Adams geniale Musik zu zerpflücken, sie nur in Ausschnitten zu präsentieren und mit heutigen Kompositionen von Laura Marconi, David Lang, Fjóla Evans und Gianluca Castelli zu mischen. Dafür wurde das bekannte Leipziger Vokalensemble Sjaella verpflichtet, das die anspruchsvollen, doch sperrigen Gesänge zwar stimmschön intoniert, doch mit ihnen eher stört. Zumal die oft sphärischen Madrigale von den sechs Sängerinnen in mehreren Sprachen stammelnd, lallend, flüsternd vorgetragen und noch mit klopfenden, klingelnden und plätschernden Geräuschen garniert werden müssen. Auch gibt es noch Xizi Wang, die im ersten Teil eine (überflüssige) Perkussion-Improvisation beiträgt, sowie einen rezitierten Text der Altistin Felicitas Erben („Wo bist Du?“), welcher sich mit den menschlichen Geschlechtsorganen, erektiler Dysfunktion, häuslicher Gewalt gegen Frauen, der KI und dem Femizid befasst. Das ist Leipziger Allerlei, wie man es im Restaurant nicht bestellen würde…
Die Ausstattung der schwarz eingefassten Bühne von Paul Zoller ist sparsam, wird dominiert von einem mobilen Plateau, das den Perkussion-Apparat trägt, und zeigt gelegentlich Projektionen von Wellen, Flammen und Wolken. Die Kostüme (ebenfalls von Zoller) beschränken sich auf schwarze und weiße Trikots, Anzüge, Schwanenflügel und Tüllröcke, wobei keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern auszumachen sind. Ganz selten sorgt ein rotes oder blaues Kleid der Giselle bzw. einem ihrer Doubles für einen Blickfang. Ein spektakulärer Effekt stellt sich am Schluss ein, wenn die sechs Sängerinnen wie auf hohen, mit weißem Stoff drapierten Kothurnen in den Bühnenhimmel schweben, während Giselle einsam an der Rampe zurückbleibt.
Dass Adams Musik nur als Torso zu hören war, ist umso bedauerlicher, da sie vom Gewandhausorchester Leipzig unter Matthias Foremny mit Delikatesse und romantischem Gefühl serviert wurde. Den Musikern wie den Tänzern galt am Ende uneingeschränkter Jubel.
Bernd Hoppe, 24. April 2024
Giselle
Adolphe Adam
Leipziger Ballett im Opernhaus Leipzig
Premiere am 20. April 2024
Choreografie: Mario Schröder
Musikalische Leitung: Matthias Foremny