Sofia: „Yanas Neun Brüder“ /  „Carmen“

am 29. und 30. August 2020, Festung Tsari Mali Grad bei Sofia

Bulgarische Nationaloper am Ort ihres Geschehens…

Die Sofia Oper und Ballett gehört zu den ersten Opern-Kompagnien der Welt, die während der Corona-Krise im Sommer 2020 live auftraten. Unter der Leitung des Generaldirektors Plamen Kartaloff trat die Kompagnie trotz der sozialen Isolation aufgrund des Corona-Virus und der schwierigen finanziellen Situation in der Sommersaison 2020 auf sieben Bühnen auf, sechs davon open air. Beim ersten Sommerfestival „Portal der zwei Welten“ auf der spätantiken Festung Tsari Mali Grad, etwa 80 km von Sofia entfernt in einem Eichenwald mit Weitblick auf die Ebene von Belchin, zeigte Kartaloff zwei Opern, „Carmen“ von Georges Bizet und „Yana’s Nine Brothers“ des bulgarischen Komponisten Ljubomir Panajotow Pipkov. Dieses Werk wird heute als ein Wendepunkt in der bulgarischen klassischen Musik gesehen. Auf dem reichen Schatz der Volksmusik aufbauend wollte Pipkov einen neuen bulgarischen Musikstil kreieren, der das Erbe der klassischen Musik der Welt mit dem reichen Erbe der nationalen Lieder, Gesänge und Rhythmen sowie dem historischen Gehalt des Stückes verbindet. Pipkov, zu jener Zeit Schüler von Paul Dukas in Paris, befand sich zur Zeit der Komposition der „Yana“ 1929 in einer politisch dramatischen, ja nahezu traumatischen Situation. Man spürt das immer wieder in diesem Werk. „Yana“ ist eine große bulgarische Nationaloper, die historischen Stoff mit – leider – großer Aktualität verbindet. Sie erlebte 1937 ihre Uraufführung.

Plamen Kartaloff kannte Pipkov selbst noch gut und inszenierte das Stück 2018 zum zweiten Mal nach 30 Jahren. Er brachte diese Inszenierung nun mit Hilfe eines Großsponsors auf die spätantike Festung Tsari Mali Grad. Das Stück spielt von der Bulgarin Yana, die neun Brüder hat, die alle in den unmenschlichen Minen des Rila-Berges schuften. Unter ihnen ist der hässliche Georgi, der dem schönen und künstlerisch begabten jüngeren und von Mutter wie Yana weit mehr geliebten Bruder Angel aus Neid das Leben schwer macht, auch auf sein höheres Alter pochend. Es gleicht der Kain- und Abel-Situation des 1. Buches Mose. Denn Georgi hackt dem Holzschnitzer Angel schließlich beide Hände ab, womit dieser als armer Bettler sterben muss. Als die rote Pest aus Bosnien kommt – Assoziationen mit der gegenwärtigen Corona-Pandemie drängen sich unmittelbar auf – macht sich Georgi diese über das Mitspiel einer Zigeunerin zunutze, um auch seine übrigen sieben Brüder umzubringen. Am Schluss sterben seine erblindete Mutter und er selbst. Nur Yana bleibt als Geläuterte zurück, im Angesicht der durch die anrückenden osmanischen Besatzer in Brand gesetzten bulgarischen Dörfer – eine Oper mit wahrhaft nationalen und visionären Dimensionen!

Kartaloff schafft mit einer oft bizarren, aber immer stimmungsvollen Beleuchtung in den mystisch wirkenden Mauern der Römerfestung mit einfachen symbolischen Bühnenbildern von Sven Jonke und aus der Zeit des Stückes genommenen Kostümen von Stanka Vauda eine optische Ästhetik, die ganz auf Symbolismus setzt. Mit einer starken Personenregie wird dezidiert das Schicksal der Protagonisten dargelegt und auf dramatische Entscheidungen hingearbeitet. Lilia Kabanova sang eine gestaltungsintensive Yana mit klangvollem Sopran und eignete sich auch für den zeitweise vorherrschenden Sprechgesang sehr gut. Hrisimir Damyanov singt den schöngeistigen Angel mit einem lyrisch timbrierten leichteren Tenor. Gergana Rusekova ist eine üppige und mit einem farbig-hochdramatischen Mezzosopran agierende Zigeunerin. Petar Buchkov gestaltet den hässlichen Georgi mit intensiver Gestik und einem kraftvollen Bassbariton bei guter Tiefe. Rumyana Petrova singt die Mutter mit einigen vokalen Mangelerscheinungen ihres Mezzosoprans. Bis auf ganz wenige Ausnahmen sind die weiteren 33 (!) Nebenrollen gut besetzt. Der Chor der Sofia Oper, von Violeta Dimitrova bestens einstudiert, singt kraftvoll und war von Riolina Topalova lebhaft choreografiert.

Am Abend darauf gab es „Carmen“, ebenfalls in einer Inszenierung von Plamen Kartaloff aus dem Jahre 2017. Ihm geht es vor allem um die intensive Thematisierung der miteinander verbundenen Schicksale der drei Protagonisten. Um eine rotierende Scheibe (Bühnenbild: Miodrag Tabacki), auf der sich deren Schicksal abspielt, stehen drei Moirai, griechische Schicksalsgöttinnen, hier von Männern gespielt, jeweils mit einem langen Seil, die die drei Protagonisten mit diesem Schicksalsseil verbinden. Neben einer Anlehnung an die griechische klassische Tragödie zitiert Kartaloff auch das alte japanische Noh-Theater, insbesondere in Form der weißen Masken und schwarzen Roben (Kostüme: Hristiyana Mihaleva Zorbalieva) des Chores. Damit löst er sich von allen gängigen „Carmen“-Klischees, wie die Zigarettenfabrik, die Kneipenästhetik bei Lillas Pastia, oder die Stierkampfarena. Mit effektvollen Tanzeinlagen zeigt die Sofia Oper, über welch hochklassige Ballettkompagnie sie verfügt.

Violeta Radomirska singt und spielt eine attraktive und sinnliche Carmen mit einem schön und facettenreich klingenden, nicht allzu großen Mezzosopran. Daniel Damyanov kann ihr mit einem zu wenig klingenden Tenor und angestrengten Höhen sowie relativ geringem Volumen nicht auf Augenhöhe begegnen. Auch darstellerisch lässt er Wünsche offen. Veselin Mihaylov hingegen sprüht nur so vor Spielfreude und singt den Torero mit einem ansprechenden Bariton. Tsvetana Bandalovska gibt eine emphatische Micaela, gerät aber bei den Spitzentönen an ihre vokalen Grenzen.

Zhorzh Dimitrov dirigierte das Orchester der Sofia Oper, das in einem Zelt seitlich der Bühne platziert war, mit sicherer Hand und besonderer Acht für die Sänger, die von großen Monitoren aus geführt wurden. Das klappte erstaunlich gut, wenn auch die Lautstärke des Orchesterklanges hier und da etwas intensiver hätte sein können. Insgesamt zwei denkwürdige Abende in der wundervollen Waldlandschaft um Belchin!

Fotos: Svetoslav Nikolov

Klaus Billand/20.9.2020

www.klaus-billand.com