Kurt Weill
Premiere: 18. Oktober 2021 in Gent
Besuchte Vorstellung: 3. Oktober in Antwerpen
Opernaufführungen, die konsequent zwischen Genialität und Dilettantismus torkeln, bei denen im einen Moment stinksauer und im nächsten begeistert ist, erlebt man selten. Die Inszenierung von Kurt Weills und Georg Kaisers „Der Silbersee“ an der Oper Antwerpen/Gent in der Regie von Ersan Mondtag gelingt dieses Kunststück.
Im deutschen Sprachraum wird „Der Silbersee“ selten gespielt, zuletzt gab es Aufführungen in Augsburg (2009) und Hannover (2011): Das Stück, das am 18. Februar 1933 gleichzeitig in Leipzig, Erfurt und Magdeburg uraufgeführt wurde, ist im Kern antikapitalistisch: Der Tagelöhner Severin stiehlt bei einem Überfall eine Ananas und wird auf der Flucht vom Polizisten Olim angeschossen. Olim gewinnt in der Lotterie, kauft sich ein Schloss und wird vom schlechten Gewissen gepackt. Er lädt Severin zur Genesung in sein Schloss ein, ohne dass dieser weiß, dass Olim auf ihn geschossen hat. Als Olims Haushälterin Frau von Lubber sich des Anwesens bemächtigt, fliehen die beiden Männer zum titelgebenden Silbersee.
Das Hauptproblem bei diesem Werk ist, das nicht klar ist, ob es eine Oper oder ein Schauspiel mit Musik ist, ob man die Rollen mit Sängern oder Schauspielern besetzt? In Antwerpen bietet das Orchester unter dem Dirigat von Karel Deseure einen großen sinfonischen Klang, Regisseur Ersan Mondtag setzt aber hauptsächlich auf die Schauspieler: Sein extrovertierter Leib- und Magendarsteller Benny Claessens gibt den Olim als weinerliche Diva.
Für den Severin hat man mit Daniel Arnaldos einen Tenor engagiert, der nur über eine schmale Stimme verfügt, die in der Höhe sehr eng wird. Wenn man bedenkt, dass Heldentenor Wolfgang Schmidt die Rolle auf der WDR-Aufnahme von 1990 singt, ist dies eine krasse Fehlbesetzung, durch welche die Rolle stark abgewertet wird. Weil man für Fennimore, die Nichte der Frau von Lubber, eine ebenso gute Sängerin wie Schauspielerin benötigt, wird die Partie hier aufgeteilt: Die belgische Schauspielerin Marjan de Schutter spielt Fennimore, in den Gesangsnummern kommt Hanne Roos auf die Bühne. Marjan de Schutter ist durch ihre Fernsehauftritte in Belgien so beliebt, dass ihre Ankündigung, dass sie einen Witz erzählen möchte, ausreicht, um den Saal in schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen.
Was Regisseur Ersan Mondtag mit dieser Produktion sagen möchte bleibt rätselhaft: Die Eröffnungsszene, in der Mutatentenmenschen ihren Hunger begraben, entpuppt sich als Filmdreh, in dem Olim der Regisseur ist. Der arbeitet im Jahr 2033 an einem antifaschistischen und antikapitalistischen „Silbersee“-Film. Die Mutanten werden dann aber zu IS-Terroristen, die gemeinsam mit Severin einen Laden überfallen. Das Bühnenbild wechselt in einen monumentalen ägyptischen Palast, der jeder „Aida“ Ehre machen würde. Später bekommt das Publikum von Ersan Mondtag, der auch sein eigener Ausstatter ist, noch das Holztreppenhaus eines nostalgischen Schlosses geboten, das optisch ebenso erschlagend ist.
Befinden wir uns noch in Olims Silbersee-Dreharbeiten oder Ersan Mondtags eigener Inszenierung? Keine Ahnung! Zwischendurch wird über Politik, Homophobie und über das Stück improvisiert, diskutiert und philosophiert, was dazu führt, dass die Aufführung drei Stunden und 20 Minuten dauert. (die WDR-Aufnahme benötigt gerade einmal 107 Minuten!) Gesungen wird auf Deutsch, in den Spielszenen wird zwischen Deutsch, Englisch und Niederländisch gewechselt, was die Verwirrung und Ratlosigkeit des Zuschauers steigert.
Nach der Pause macht Mondtag aus dem Stück eine schwule Liebesgeschichte zwischen Olim und Severin, die den Weg zum Silbersee als Coming-out erleben, Severin im rosa Hosenanzug, Olim im Lack-Body.
Ersan Mondtags Inszenierung beeindruckt auf der einen Seite mit starken Bildern, torkelt aber zwischen diversen Regie-Einfällen hin und her, die kein schlüssiges Ganzes ergeben. Man darf gespannt sein, was ihm zu Weber „Der Freischütz“ (ab 12. Februar 2022 in Kassel) und Marschners „Der „Vampyr“ (ab 25. März 2022 in Hannover) einfällt.
Rudolf Hermes, 8.10.2021
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