Antwerpen: „Don Carlo“

Premiere: 19.09.2019
besuchte Vorstellung: 28.09.2019

Erinnerung im Wahn oder wahnhafte Erinnerung?

Lieber Opernfreund-Freund,

in den vergangenen Jahren haben die die beiden Opernkooperationen Düsseldorf/Duisburg und Antwerpen/Gent, was Verdis Werke betrifft, äußerst erfolgreich zusammengearbeitet und mit Michael Thalheimers Regiearbeiten so schlüssige wie spannende Interpretationen der „großen“ Schauspielvertonungen des Meisters aus Busseto auf die Bühne gebracht: den im wahrsten Wortsinne tiefschwarzen Otello und den dichten und in seiner kargen Ausstattung doch bildgewaltigen Macbeth, der in der vergangenen Spielzeit in Antwerpen Premiere hatte (ich durfte Ihnen begeistert berichten) und im kommenden Frühjahr am Rhein zu sehen sein wird. Der frisch gebackene künstlerische Leiter Jan Vandenhouwe hat bezüglich der Verdi’schen Schiller-Adaption Don Carlo auf die Lesart von Johan Simons gesetzt, die mit symbolschwangeren Bildern überzeugt und dank einer durch die Bank exquisiten Sängerriege zum Fest wird.

Ob der Titelheld die Handlung nur träumt oder sich an sie erinnert, bleibt bis zum Schluss unklar an diesem Abend, aber man merkt sofort, dass Carlos Geisteszustand zu wünschen übriglässt. Das liegt nicht nur daran, dass er – der nahezu die ganze Zeit szenisch präsent ist – sich allenthalben in vergitterte Krankenbetten legt, die an ein Kinderbett oder einen Laufstall erinnern. Die Bühne von Hans Op de Beeck wird auch dominiert von so überdimensionalen wie bunten, wie Bauklötze erscheinenden geometrischen Gebilden, mit denen Carlo gerne spielt. Der Thronfolger möchte also etwas Bleibendes schaffen, doch das gelingt ihm nicht.
Der Hofstaat ist in herrlich überzeichnete, skurril und teils irreal wirkende Kostüme gehüllt (bravourös: Greta Goiris), Op de Beecks Videoeinspielung lassen durch Bewegung Kulissen entstehen, die an naive, fast kindliche Malerei erinnern. Carlo bleibt gleichsam Kind, das um die Anerkennung des Vaters buhlt und darunter leidet, dass seine Geliebte seine Stiefmutter geworden ist. Doch er ist nicht der einzige Leidende: Auch Elisabetta wird zerrieben zwischen ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Gefühlswelt, Philipp merkt nicht nur, wie es um seine Frau und seinen Sohn steht, sondern auch, dass er als weltlicher Herrscher sich immer geistlicher Macht beugen muss. Eboli ist unglücklich verleibt, wird aus gekränktem Stolz zur Verräterin und kann nicht mehr aufhalten, was sie in Gang gebracht hat, Posa will treuer Freund sein, ergreift aber auch für Philipp Partei. Und über allem thront der Urahn Karl V., der in der Oper das letzte Wort hat.

Diese Beziehungen und inneren Nöte setzt Johan Simons durch eindrückliche Personenführung gekonnt in Szene, macht Beziehungen deutlich und schafft düstere, imposante Bilder, deren Wirkung durch das ausgefeilte Licht von Dennis Diels noch an Kraft gewinnen. Die Szene voller Symbole mag sich nicht immer bis ins letzte erschließen, entwickelt aber dennoch eine fast hypnotisierende Wirkung und fasziniert. Ähnlich ergeht es mir mit dem klangschönen Sopran von Mary Elizabeth Williams in der Rolle der Elisabeth. Eine solch bis zur Perfektion ausgestaltete Pianokultur habe ich schon lange nicht mehr hören dürfen. Ihre wundervolle Stimme und ihre gekonnte Stimmführung haben Suchtpotenzial. Der Italoamerikaner Leonardo Capalbo ist eine eindrucksvolle Titelfigur, die einem noch aus den undenkbarsten Positionen, die er als Wahnsinniger in Betten und zwischen Bauklötzen einnehmen muss, die wuchtigsten Töne entgegenschmettert. Mit nicht enden wollenden Kraft erweckt er den Prinzen am Rande des Wahnsinns zum Leben, ist auch zu feinen Piani in der Lage und beeindruckt mich tief in seiner nuancierten Rollengestaltung.

Der Marquis de Posa findet im in Hamburg engagierten Kartal Karagedik einen facettenreicher Gestalter, der mit imposantem Bariton ebenso kraftvoll den kämpferischen Freund wie gefühlvoll den Zweifelnden mimt, der die zunehmende Umnachtung des Gefährten erkennt. Ein ebensolcher Spieler mit den Klangfarben seiner Stimme ist Andreas Bauer Kanabas, der dem spanischen König Philippe neben drohender und gewaltiger Kraftgebärde nicht nur im vierten Akt einen gehörigen Schuss Desillusion, enttäuschte Liebe und Gefühl beimischt. Die Eboli der US-Amerikanerin Raehann Bryce-Davis ist schlicht eine Wucht – ihre Gartenszene von unvergleichlicher Leichtigkeit und überschäumend vor Esprit, das läuternde O don fatal voller Schmerz und gleichzeitig voller Energie. Roberto Scandiuzzi beeindruckt physisch und akustisch als Großinquisitor mit schwarzer Tiefe und Macht demonstrierender klanglicher Wucht während Annelies van Gramberen als Page und himmlische Stimme mit klarem Sopran einen wahrhaft himmlisch-feinen Gegenpol zur düster-tiefen Männerwelt setzt.

Der Chor unter der Leitung von Jan Schweiger bewältigt die umfangreiche Partie tadellos und überzeugt auch darstellerisch in den von Simons vorbildlich geführten Massenszenen. Im Graben erweist sich der neue Musikdirektor Alejo Pérez als Spezialist für satten Verdi-Klang, kostet mit den Musikerinnen und Musikern des Symfonisch Orkest jeden Moment, jede Nuance der Partitur aus (gespielt wird die Modena-Version von 1886) und entfacht ein wahres Klangfeuerwerk. Damit tut er es den Sängern gleich, was das Publikum im nahezu voll besetzten Haus mit endlosem, begeisterten Applaus goutiert. Und auch ich bin von der künstlerischen Seite restlos begeistert, einen Don Carlo kann man wohl kaum besser singen, als das die Künstlerinnen und Künstler in Antwerpen tun. Und die Regieeinfälle von Johan Simons und die grandiose Umsetzung durch das Produktionsteam haben es im Laufe der Vorstellung geschafft, auch auf mich, der einem Ansatz, dass alles nur geträumt ist, nur selten folgen kann, eine gewisse Faszination zu versprühen.

Ihr Jochen Rüth 30.09.2019

Die Fotos stammen von Annemie Augustijns.