Lieber Opernfreund-Freund,
in der griechischen Mythologie ist allerhand los. Zum Beispiel in der Familie von Agamemnon, Anführer der Griechen und Kriegsheld im Trojanischen Krieg. Zusammen mit seiner Frau Klytämnestra hat er vier Kinder: Iphigenie, Elektra, Chrysothemis und Orest. Iphigenie opfert er, um die Göttin Artemis zu besänftigen. Die gebrochene Mutter erdolcht daraufhin Agamemnon, um ihre Tochter zu sühnen. Der Rachemord, der wiederum darauf folgt – Orest bringt seine Mutter auf Bitten seiner Schwester Elektra um – ist derzeit in Köln im Staatenhaus in einer beeindruckenden Inszenierung der gleichnamigen Strauss-Oper zu erleben. Nicht minder beeindruckend ist die Umsetzung eines weiteren Handlungsstrangs des Familiendramas, der rund 200 km westlich in Antwerpen an der Opera Vlaanderen gezeigt wird: Christoph Willibald Glucks Iphigénie en Tauride (Iphigenie in Tauris).
Iphigenie wurde nämlich von Artemis gerettet und zur Tempelhüterin auf Tauris gemacht. Dort ist sie unter der Herrschaft von König Thaos dafür verantwortlich, den grausamen Brauch auszuführen, am Strand gestrandete Fremde im Artemistempel zu opfern. Orest wird nach dem Muttermord von den schrecklichen Erinnyen – personifizierten Gewissensbissen – verfolgt und flieht zusammen mit seinem Freund und Neffen Pylades nach Tauris. Die Ankömmlinge werden aufgegriffen und sollen geopfert werden. Die Geschwister erkennen sich nicht sofort und so lässt sich Iphigenie von Orest, der sich nach dem Tod sehnt, überreden, seinem Begleiter zur Flucht zur verhelfen und nur ihn hinzurichten. Artemis – die in der Oper wie ihr römisches Gegenstück „Diane“ heißt – erscheint als Dea ex machina und macht dem Morden ein Ende.
Ähnlich wie ich versucht auch der junge Regisseur Rafael R. Villalobos, die Handlung in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, indem er in seiner im vergangenen Jahre bereits in Montpellier gezeigten Inszenierung eingeschobene Teile der Vorgeschichte als Drama aufführen lässt: die Opferung Iphigenies, den Mord an Agamemnon, die Verfolgung Orests durch die Erinnyen. Folgerichtig hat Emanuele Sinisi die Bühnengestaltung an ein Amphitheater angelehnt – auf den Stufen findet dann die Handlung der Oper statt. Das Theater ist allerdings im Krieg offensichtlich beschädigt worden, die Protagonisten steckt Villalobos in sämtliche Schattierung von Grau, lässt die Krieger in Tarnfleck auftreten. Thaos ist ein blutrünstiger Tyrann, viel Kunstblut und teils drastische Bilder bestimmt die düstere Szenerie, da wirken das Abendessen bei Agamemnons oder das sich dann und wann herabsenkenden Bühnenportal wie Fremdkörper und verdeutlichen, so Villalobos, den brutalen Einfluss von Krieg auf die Kunst. So weit so gut – eine direkte Ableitung zum konkreten Werk Glucks lässt sich hier nun nicht wirklich erkennen, aber eindrucksvolle Bilder entstehen.
Unkonventionell (geworden) ist auch die Art des Musizierens, die Benjamin Beyl im Graben anschlägt. Fern von nüchternem Barockklang entfacht er eine außergewöhnliche Klangfülle und macht das Werk so musikalisch höchst spannend. Er befeuert das Symphonisch Orkest Opera Ballet Vlaanderen zu einer lebendigen Version der Gluckschen Partitur, auch wenn sich Fans der historisch informierten Aufführungspraxis hier angewidert abwenden dürften. Der von Jori Klomp betreute Chor lässt sich von der außergewöhnlichen Interpretationsweise anstecken, präsentiert seinen umfangreichen Part klanggewaltig und kämpferisch, das geht mitunter zu Lasten der Präzision.
Insgesamt zeichnen sich auch sämtliche Solistinnen und Solisten durch wenig barocke Zurückhaltung, sondern vielmehr durch emotionsgeladene Interpretationen aus: Michèle Losier beeindruckt in der Titelrolle mit raumfüllendem Sopran, der vor Inbrunst nur so strotzt. Der Kanadierin nehme ich ihre vom Schicksal gebeutelte Figur in jeder Sekunde ab, ihr intensives Spiel lässt keine Wünsche offen. Kartal Karagedik gelingt als Orest die Gratwanderung zwischen demonstrierter Kampfeslust und immensem Gefühl. Der türkische Bariton bringt das volle Klangspektrum zwischen machohafter Virilität und zu Herzen gehender Piani mit und verkörpert glaubhaft die gebrochene Figur, die glaubt, den Geistern der ermordeten Mutter nur durch den eigenen Tod entkommen zu können. Reinoud Van Mechelen ist ein höhensicherer Pylade und Wolfgang Stefan Schwaiger wirft sich mit viel Verve in die Rolle des despotischen Thaos. Aus der Riege der kleineren Rollen fällt vor allem der Niederländer Hugo Kampschreur, Mitglied des Jong Ensemble Oper Ballet Vlaanderen, mit klangschönem Tenor auf.
Das ausverkaufte Haus hält es nach knapp zweieinhalb Stunden nicht mehr auf den Sitzen – die Bildgewalt und die künstlerische Qualität haben alle begeistert. Auch mich!
Ihr
Jochen Rüth
28. Oktober 2024
Iphigénie en Tauride
Oper von Christoph Willibald Gluck
Opera Ballet Vlaanderen
Premiere: 25. Oktober 2024
besuchte Vorstellung: 27. Oktober 2024
Regie: Raffael R. Villalobos
Musikalische Leitung: Benjamin Beyl
Symfonisch Orkest Opera Ballet Vlaanderen
weitere Vorstellungen: 29. und 31. Oktober sowie 2. und 5. November 2024