Lieber Opernfreund-Freund,
am Opernhaus Antwerpen hatte am vergangenen Freitag ein Werk seine Uraufführung, das auch in Deutschland nicht aktueller sein könnte. Die Oper Brodeck von Daan Janssens beschäftigt sich mit dem Thema Fremdenhass. Sie entstand nach der Romanvorlage Brodecks Bericht des französischen Schriftstellers Philippe Claudel aus dem Jahr 2009 und erzählt eine grausige Geschichte, die im deutsch-französischen Grenzgebiet kurz nach Ende eines Krieges spielt, der nicht weiter benannt wird: Als Brodeck den Gasthof des abgelegenen Bergdorfes betritt, in dem er lebt, haben die dort anwesenden Dorfbewohner gerade einen Fremden, den alle nur „der Andere“ nennen, ermordet. Der Bürgermeister (Werner Van Mechelen mit imposantem Bassbariton) verpflichten Brodeck, einen Bericht zu verfassen, der alles erzählen, die Täter aber auch entlasten soll. In der Folge befragt Brodeck verschiedene Dorfbewohner und entdeckt dabei nicht nur die jeweiligen Erfahrungen mit dem Fremden und die Abgründe und Geheimnisse der Menschen, mit denen er spricht, sondern entblättert im Laufe der rund zwei Stunden auch seine eigene bedrückende Geschichte.
Er selbst war Fremder in der verschworenen Dorfgemeinschaft: als Findelkind groß geworden und anders aussehend hat er im Gegensatz zum Rest der Bewohner studiert. Aufgrund dieses Anderssein wurde er im Krieg diffamiert und den Besatzern im Zuge einer „Säuberungsaktion“ ausgeliefert. Doch auch die Bewohner haben ihre Geschichte: der Pfarrer (Thomas Blondelle darstellerisch imposant und mit raumgreifender Stimme, die mich bis ins Mark trifft) hat durch die Schrecken des Krieges seinen Glauben verloren und flüchtet sich in den Suff, der Herbergsbesitzer Schloss (Kris Belligh) hat während des Krieges zusammen mit den Besatzern Brodecks Frau Emélia (Elisa Soster mit glockenhellem Sopran) vergewaltigt. Die grauenhaften Geschichten, die Brodeck entdeckt, bringen ihn zu dem Entschluss, zusammen mit seiner Familie das Dorf zu verlassen.
In der Titelrolle ist Damien Pass omnipräsent, brilliert mit ausdrucksstarkem, facettenreichen Tenor und intensivem Spiel. Die Musik von Daan Janssens erinnert dabei bisweilen an die Filmmusik von Psychothrillern – und das ist Brodeck ja auch irgendwie. Der 40jährige belgische Komponist findet dabei die richtigen klanglichen Mittel, die die innere Zerrissenheit von fast allen Protagonisten nicht nur hör- sondern gleichermaßen spürbar machen. Die schlichte Bühne von Vincent Lemaine ist mit wenigen Requisiten ausgestattet und stellenweise durch einen Perlenvorhang geteilt, der das dahinter Liegende verschleiert, ehe es durch die Drehbühne wie durch Brodecks Gespräche in den Vordergrund gerückt wird. Vorproduzierte und live aufgenommene Filmsequenzen, für die Giacinto Caponio verantwortlich zeichnet, erlauben zusätzlich immer wieder eine weitere Perspektive auf das Geschehen, packen mich und die anderen Zuschauer in der fast ausverkauften Sonntagsnachmittagsvorstellung nach der freitäglichen Uraufführung zusätzlich.
Dem Fremden steht die Gemeinschaft anfangs zumindest neugierig gegenüber, doch durch sein Anderssein (musikalisch sinnfällig dadurch gelöst, dass der Darsteller Josse De Pauw nicht singt, sondern spricht) macht er misstrauisch, wirkt allein dadurch suspekt, dass er viel fragt, ständig lächelt und durch nichts aus der Ruhe zu bringen scheint. Die Absurdität von Fremdenfeindlichkeit wird so entlarvt und die Tatsache, dass die Geschichte nur kurze Zeit nach überstandener Terrorherrschaft spielt, lässt einen zudem „Nie wieder!“ denken.
Der Opera Ballet Vlaanderen ist mit diesem Werk in der packenden Umsetzung des Regieteams um Fabrice Murgia eine fesselnde Produktion gelungen, die mich mit dem Wunsch zurücklässt, dass das Werk seinen Weg auch auf deutsche Bühnen findet.
Ihr Jochen Rüth, 6. Februar 2024
Brodeck
Daan Janssens
Opera Vlaanderen, Antwerpen
Uraufführung: 9. Februar 2024
besuchte Vorstellung: 11. Februar 2024
Regie: Fabrice Murgia
Bühne: Vincent Lemaine
Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Symfonisch Orkest Opera Ballet Vlaanderen
Produktions-Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=fqJn_U0CnnQ
weitere Vorstellungen: am 17. und 20. Februar in Antwerpen sowie am 29. Februar und am 3., 6. und 9. März in Gent