Paris: „Turandot“

Opéra National de Paris 4. 12. 2021

Eine bejubelte Premiere in Paris: Einstand des neuen Chefdirigenten Gustavo Dudamel als Anfang der neuen Intendanz von Alexander Neef mit mutigen Plänen

Das Licht sagt alles aus: mit der Liebe, die wie ein weißer Strahl das Herz von Turandot (Elena Pankratova) trifft, wird die graue Welt plötzlich rot.

Es wirkte fast unwirklich, wie noch aus ante-PandemiaZeiten: eine rammelvolle, zu 100% ausgelastete Oper, Weihnachtsstimmung mit Glühwein auf dem geschmackvoll dekorierten Place de la Bastille (alsob Bob Wilson ihn extra für die Premiere in blau beleuchtet hätte), und drinnen Champagne vor der Aufführung. Denn mit einem Glas in der Hand braucht man in Frankreich keine Gesichtsmaske zu tragen – einer der Gründe, weswegen in Paris im Herbst 2021 mehr als doppelt so viel Champagne getrunken wurde als im ganzen Jahr 2020! Es gab auch viel zu feiern. Die große Oper, an der im Dezember 2019 der längste Streik ihrer Geschichte anfing, ist nach zwei Jahren nun endlich aus den negativen Schlagzeilen. Über was in dieser dunklen Zeit passiert ist, könnte man am besten eine Operette schreiben. Mit als Hauptfigur Madame de Pompadour, die im 18. Jahrhundert die französische Kulturpolitik aus ihrem Palais de l’Elysée leitete, und die sich wohl wundern würde, wie stümperhaft und taktlos ihre Nachfolger, dies heute an ihrem eleganten Schreibtisch tun. Schwamm drüber. Nach zwei Jahren hat die Opéra de Paris endlich einen neuen Intendanten und einen neuen Musikdirektor, die unter schwierigsten Umständen (verfrüht) antreten mussten und es nun schaffen, den festgefahrenen Dampfer an der Bastille wieder in Fahrt zu setzen. Dafür erst einmal: alle Achtung!

Der Deutsche Alexander Neef, der das Haus von früher kennt und es erst aus Kanada per Internet leiten musste, setzte im September als erste Oper „Oedipe“ von Georges Enescu an, 1936 an der Pariser Oper uraufgeführt und seitdem hier nicht mehr gespielt. Er erklärte seine Wahl mit dem Motto „Traumaverarbeitung“. Das ist ihm gelungen, denn alle sind nun froh wieder da zu sein und der neue Chefdirigent wurde vor der Premiere mit einem Applaus im Graben empfangen, so wie ich ihn selten hier gehört habe. „Turandot“ passt zu ihm, denn Gustavo Dudamel hat 2017 hier schon „La Bohème“ dirigiert, wo das Orchester sich gut mit ihm verstand und ihn nun offensichtlich gerne wiedersieht. Die „Neuinszenierung“ – mit solchen Begriffen nimmt man es in Paris nicht so genau – kommt aus Madrid, wo 2018 eine schöne DVD-Aufnahme gemacht wurde (bei Belair). Wir brauchen also nicht lange auf sie einzugehen.

Eine Bühnenbild-Überraschung: in „Nessun dorma“ irrt Calaf (Gwyn Hughes Jones) durch einen abstrahierten „Wald von Gefühlen“.

Die Ästhetik von Bob Wilson ist bekannt, manchmal funktioniert sie mit den Werken, manchmal nicht (so wie bei seinem Pariser „Ring“). Von seinen zehn Inszenierungen an der Pariser Oper, gehören zwei zum gern gespielten Repertoire: „Pelléas“ und, vor allem, seine „Butterfly“, 1993 hier „uraufgeführt“, seitdem durch die ganze Welt gereist und 2020 noch immer an der Bastille gespielt. Doch „Turandot“ ist eine unvollendete Oper – bis Mitte des zweiten Akts, wo Giacomo Puccini wegen eines Operationsfehlers in einer Brüsseler Klinik plötzlich verstarb. Franco Alfano hat verdienstvoll das Werk nach einigen Skizzen zu Ende komponiert (Finale II und ganzen Akt III), doch wirklich befriedigend ist seine Nachkomposition nicht. Denn er hat dabei nur einen Teil der Particelle benutzt. Da fehlt vor allem das geplante „große Liebesduo wie bei Tristan und Isolde“ (so Puccini), mit dem aus der kalten, rachehungrigen chinesischen Prinzessin eine liebende, menschliche Frau aus Fleisch und Blut werden sollte. Wie würden wir heute Isolde empfinden, wenn Wagners Liebesduo und der „Liebestod“ fehlen? Sie wäre nur „eine halbe Frau“ – wie Turandot. Die einzige Figur, die ganz so geworden ist, wie Puccini sie sich vorstellte, ist Liù, aus der er – übrigens ganz gegen die Vorlage von Gozzi – ein berührendes armes Mädchen machte wie seine Mimi. Puccini starb kurz nachdem er Liùs Tod im zweiten Akt fertiggestellt hatte. Was folgt – immerhin die Hälfte der Oper! – bleibt eine Notlösung. (Die neue Fassung von Luciano Berio aus 2001, mit „Tristanakkord“ und Mahler-Reminiszenzen, ist meiner Meinung nach auch nicht befriedigend.)

Nichts bringt den „himmlischen Kaiser“ (Carlo Bosi, oben) aus der Ruhe, doch die Bonzen und Turandot (Elena Pankratova) werden unruhig, nachdem Calaf (Gwyn Hughes Jones) als Erster Antworten auf ihre schwierigen Fragen findet.

Wilsons „Turandot“ ist, wie immer, fantastisch beleuchtet und fein ausgearbeitet. Es gibt schöne Kostüme von Jacques Reynaud und eine Bühnenbild-Überraschung für „Nessun dorma“: Calaf irrt durch einen „Wald von Gefühlen“. Alles bleibt sehr abstrahiert, was manchmal poetisch gelingt. So der Tod von Liù: sie schließt ihre Augen und steht regungslos in einem blau erkaltenden Licht. Sehr poetisch! Bei der musikalischen Umsetzung haperte es leider etwas an diesem Premierenabend. Der Chor der Opéra de Paris verhedderte sich gleich bei seinem Auftritt mit Wilsons Hand- und Armbewegungen – obwohl dieser mit einer ganzen Riege von Assistenten angereist war, die Wochen lang geprobt hatten. Und auch exzellent vorbereitet durch seine neue Chefin Ching-Lien Wu, fiel er auseinander. Dudamel beschleunigte und drehte den Sound auf um Zusammenhalt wiederherzustellen – womit das Opernorchester, das ihm auf jeden Wink enthusiastisch folgte, kein Problem hatte. Doch bei den Sängern spürte man eine Panik, die ihnen weiterhin in den Knochen blieb, weil viele an diesem Abend in diesem riesigen Saal debütierten, der eine problematische Akustik hat. In „Signore ascolta!“ verpatzte Guanqun Yu ihren ersten hohen Ton. Sie fing sich aber bewundernswert und leistete als Liù die größte gesangliche Leistung des Abends, indem sie wunderbar phrasierte und als Einzige auch mal piano sang. Sie berührte alle bis auf den letzten Platz und beikam den größten Applaus während der Vorstellung. Elena Pankratova, die schon Turandot und Elektra an der Wiener Staatsoper gesungen hat und nun auch an der Bastille debütierte, konnte ihre Stimme nicht richtig im Saal platzieren. Die Rolle ist auch höllisch schwer: ohne jegliches Vorwärmen gleich anfangen mit „In questa Reggia“: die ganze Zeit laut und hoch. Für Birgit Nilson und Montserrat Caballé – beide unvergessene Turandots in Paris – kein Problem, aber bei Pankratova brachen die Register auseinander. Gwyn Hughes Jones hatte es als Calaf noch schwieriger. Er kennt das Haus als Camille de Rossillon in der „Fledermaus“ und wir waren gespannt auf sein Rollenportrait als Nicht-Italiener. Er brachte viele interessante Nuancen, aber in „Nessun dorma“ fehlte es ihm – in diesem Saal – an Durchschlagkraft: kein Applaus danach… Vitalij Kowaljow sang einen berührenden Timur (Vater von Calaf) und Carlo Bosi einen sonoren Kaiser Altoum. Alessio Arduini, Jinxu Xiahou und Matthew Newlin waren ein wunderbar spielfreudiges Trio Ping Pang Pong und Bogdan Talos ein guter Mandarino. Alles gute Sänger, aber an diesem Abend in diesem Saal gerade eine Nummer zu klein. Da muss sich die neue „Directrice du Casting“ vielleicht auch noch einhören.

Der berührenste Augenblick des Abends an dem auch Puccini starb: Liù (Guanqun Yu) schließt ihre Augen und stirbt regungslos in einem blau erkaltenden Licht. Neben ihr der alte Timur (Vitalij Kowaljow).

Beim Fallen des Vorhangs stand das Publikum schon im Dunkeln auf – das habe ich hier noch nie hier gesehen. Großer Jubel, vor allem für Gustavo Dudamel, das Orchester und den Chor, und kein einziges Buh – nicht einmal für den Regisseur, die hier quasi immer ausgebuht werden. Ein gelungener Start und nun geht es gleich in raschem Tempo weiter. Dudamel probt schon für eine Neu-Inszenierung der „Nozze di Figaro“ (Premiere am 23. Januar mit Peter Mattei, Ildebrando D’Arcangelo und Angelika Kirschschläger). Danach soll es 3 Premieren in nur 2 Wochen geben: WA „La Khovanchina“ (26. Januar), „Don Giovanni“ (1. Februar) und vier Tage später „Manon“ in der bildschönen Inszenierung von Vincent Huguet, deren Premiere im Februar 2020 dem Streik zum Opfer fiel, bevor kurz danach die ganze Oper wegen der Pandemie schließen musste. Alexander Neef hat mutig 20 Opern in dieser Spielzeit 2021/22 angesetzt, obwohl er keine Sicherheit vom französischen Staat bekommt, wie er das alles finanzieren soll. Denn im Gegensatz zur Wiener Staatsoper oder jeder normalen „Nationaloper“, finanziert der französische Staat nur die Hälfte des Etats. Die andere Hälfte muss die Opéra de Paris selbst verdienen. Und wenn es keine Vorstellungen gibt, gibt es natürlich keine Einnahmen und nach zwei Jahren Krise hat das Defizit der Opéra de Paris astronomische Zahlen erreicht. Deswegen alle Achtung mit welchem Elan der Dampfer nun wieder losfährt und mit welchem Eifer Gustavo Dudamel an seine neuen Aufgaben geht (zu sehen in seinem Interview auf der Homepage der Oper). Wir wünschen der Pariser Oper, dass weiterhin gute Feen über sie wachen –wie die „bonne fée“ der zauberhaften „Cendrillon“ von Massenet, die für März 2022 in einer Neuinszenierung angesetzt ist. Die bösen Geister und Kobolde werden hoffentlich weiterhin einen großen Bogen um die Opéra machen, denn in Frankreich sagt man, dass diese keinen Champagner mögen. Waldemar Kamer

Bis 30. Dezember an der Opéra National de Paris: www.operadeparis.fr

Waldemar Kamer, 8.12.2021

Alle Fotos: © Charles Duprat / Opéra National de Paris