Vorstellung am 24. Februar 2022
Einstand in schwierigen Umständen des neuen Intendanten: der Dirigent Louis Langrée, der dieses Repertoire kennt, liebt und wunderbar zum Klingen bringt.
Die Opéra Comique hat endlich einen neuen Intendanten und wir freuen uns sehr über diese Wahl. Denn dieses Mal siegten Kompetenz und Verstand über die immer abstruseren Forderungen der Politik. Der Präsident der Republik, der solche Ernennungen in Frankreich persönlich unterzeichnet, wollte am liebsten eine junge, wenn möglich farbige Frau, mit internationalen Medienkontakten und stellte sich erst mal stur als er auf der „Shortlist“ der Findungskommission keine solche fand. So wurde, wie bei der Pariser Oper, erstmal niemand ernannt und das Haus ein halbes Jahr „per interim“ geleitet – wie der Louvre, das Musée d’Orsay und immer noch das Schloss & Oper von Versailles. Da dieses offensichtliche Desinteresse der Regierung für die Kultur zu immer schärferer Kritik führt und es in gewissen Häusern gefährlich anfängt zu „brodeln“, wurden ausnahmsweise die Mitarbeiter selbst befragt, was für einen Intendanten sie sich denn wünschten. Und die Antwort lautete klar und deutlich: „Jemand, der das Haus & Repertoire kennt und die ganze Zeit anwesend sein wird“. So wurde Louis Langrée ernannt, der nicht zu den meist „medialen“ Kandidaten gehörte, aber dessen Kompetenz für diesen Posten niemand bestreiten kann.
Louis Langrée kennt man in Frankreich vor allem als Spezialisten des 19. Jahrhunderts: sein „Pelléas et Mélisande“ 2014 an der Opéra Comique ist zum Beispiel unvergessen. Wie sehr er dieses Repertoire kennt und liebt, kann man in dem Brief an das Publikum lesen, den er am Tag nach seiner Ernennung veröffentlicht hat: „Ich liebe dieses Haus, seine Geschichte, sein Repertoire, seine Mitarbeiter, seine Architektur, seine idealen Dimensionen, seine Intimität, seine perfekte Akustik, wo man alle Nuancen hören und fühlen kann zwischen Stille, Murmeln und Weinen, Tränen und Freude, Tragödie und Heiterkeit. (…) Ich hoffe, dass die wohlwollenden Geister der emblematischen Komponisten dieser Oper über mich wachen und mich führen werden: Debussy (Uraufführung von Pelléas), Ravel (die der L’Heure espagnole), Charpentier (Louise), Messager (Fortunio), Bizet (Carmen, die Perlenfischer), Delibes (Lakmé), Poulenc (Les Mamelles de Tirésias, La Voix Humaine), Berlioz (La Damnation de Faust), Offenbach (Les Contes d’Hoffmann), Magnard (Bérénice), Paul Dukas (Ariane et Barbebleue), Ambroise Thomas (Mignon), Saint-Saëns (la Princesse jaune), Massenet (Cendrillon, Manon), Cherubini (Médée), Boieldieu (la Dame blanche), etc…“ [alles Uraufführungen]. Louis Langrée beendet seinen Brief mit dem Versprechen, dass es sich „in den Dienst“ dieser Tradition stellen will. So einen un-egozentrischen Vorstellungsbrief eines Intendanten habe ich in Paris noch nie gelesen!
Der seltsame „Hamlet“ des „komischen Kauzes“ Ambroise Thomas
Louis Langrée dirigiert nun eine Oper, die sehr gut in seine obengenannte Liste passt. Ambroise Thomas (1811-1896) war einer der Pfeiler der Opéra Comique im 19. Jahrhundert. Von den 16 Opern, die er dort uraufgeführt hat, wurde „Mignon“ (1866, nach Goethes „Wilhelm Meister“) so erfolgreich, dass Thomas 1894 bei der 1.000en Vorstellung (!) auf der Bühne vom Staatspräsidenten die „grand croix de la Légion d’honneur“ bekam – eine Würdigung, die bis heute kein anderer Komponist in Frankreich bekommen hat. Doch außer „Mignon“ wird heute in den meisten Opernführern – wenn A. Thomas überhaupt vorkommt – kein anderes Werk mehr erwähnt. Dafür gibt es viele Gründe. Thomas wurde in jungen Jahren sehr geschätzt, auch z.B von dem überaus kritischen Hector Berlioz, der ihn 1846 „un de nos compositeurs les plus distingués“ nannte. 1856 wurde er Kompositionslehrer am Conservatoire und dort durch seinen Schüler Jules Massenet sehr geliebt. Doch ab 1870 galt er als Direktor des Konservatoriums für die neue aufblühende Generation als reaktionär. Claude Debussy, Gabriel Fauré und César Franck mochten ihn nicht und Emmanuel Chabrier schrieb den berühmten Satz: „Es gibt drei Arten Musik: die gute, die schlechte und die von Ambroise Thomas“. Dieser hämische Ausspruch klebt bis heute an ihm.
Ambroise Thomas war musikalisch (und anscheinend auch persönlich) ein „komischer Kauz“. Man wird (heute) nicht schlau aus ihm.
In seinem „Hamlet“ (1868) gibt es wunderbare Momente und andere, die erschreckend konventionell sind. Die relative Geschwindigkeit, in der er das Werk komponiert hat (ein Auftrag der großen Pariser Oper, die eifersüchtig auf den großen Erfolg der Opéra Comique mit „Mignon“ 1866 eine „grand-opéra“ bei ihm bestellte), kann dies nicht erklären – denn Rossini hätte für eine solche Riesen-Oper keine zwei Jahre, sondern kaum zwei Monate gebraucht. Bei Thomas sprudelte die Musik eben nicht von selbst, gewisse Passagen klingen „angestrengt“. So war auch Louis Langrée bereit, das an der Pariser Oper obligatorische Ballett im vierten Akt zu streichen – und wir vermissen diese 20 Minuten „Bauerntänze“ nicht. Denn gleich danach folgt eine der schönsten Sopranarien der französischen Oper des 19. Jahrhunderts: die Wahnsinns-Szene von Ophelia.
„Hamlet“ mit einem „Happy End“ von Barbier & Carré
Sie haben richtig gelesen: „Bauerntänze“ im Hamlet. Denn das Opernlibretto von Jules Barbier und Michel Carré verharmlost genau so sehr das Theaterstück von William Shakespeare wie sie es bei der besagten „Mignon“ (1866) mit Goethes Vorlage getan haben. Bei Gounods „Faust“ (1859) und seiner „Roméo et Juliette“ (1867) lief es auch nicht anders und Dante würde sicher auch staunen über was sie in „Françoise de Rimini“ (1882, für Ambroise Thomas) aus seiner „Göttlichen Komödie“ gemacht haben. Barbier & Carré waren so erfolgreich wie der 1861 verstorbene Eugène Scribe vor ihnen, weil sie genau auf die Erwartungen des damaligen Publikums einzugehen wussten. Und dies erwartete die von Berlioz erwähnte „distinction“ (schöne Sprache, Reime, Verse etc) und eine schickliche & sittliche Handlung mit keuscher Geschwister-Liebe und Todesbereitschaft für das Vaterland. So ähnelt die durch Barbier & Carré eingefügte Arie des Laërtes, womit er sich von seiner Schwester Ophelia verabschiedet, „Pour mon pays en serviteur fidèle, je dois combattre et je dois m’exiler“ inhaltlich haargenau der Arie des Valentin, mit der er sich in „Faust“ von Marguerite (Gretchen) verabschiedet: „Ô sainte médaille, qui me vient de ma soeur, au jour de la bataille, pour écarter la mort, reste-là sur mon coeur“ (auch durch sie erfunden). In „Hamlet“ gingen sie sogar so weit, dass sie der Tragödie von Shakespeare ein „Happy End“ zugefügt haben. Anstatt durch seinen bösen Onkel vergiftet zu werden (zusammen mit seiner Mutter), erschlägt Hamlet mit aktiver Beihilfe seines toten Vaters den Onkel, wird zum neuen König gekrönt und seine sündige Mutter verschwindet in einem Kloster. In Paris fand man das alles ganz normal, obwohl die Pariser das Theaterstück von Shakespeare sehr gut kannten, da es seit Napoleon (der es besonders mochte) sehr regelmäßig gespielt wurde. Keine einzige damalige Premieren Kritik geht auf die vielen Änderungen im Libretto ein! Doch als „Hamlet“ dann erfolgreich auf Tournee ging, fand man in England dieses „Happy End“ etwas „too much“ und musste Ambroise Thomas eine neue Schluss-Szene komponieren. Lustiger Weise wird bis heute nur dort dieses Shakespeare-konforme Ende noch gespielt, so wie es Louis Langrée amüsiert über seine „Hamlet“-Dirigate in London und New York berichtet (Covent Garden und Metropolitan Opera). Also wer das Stück kennt, wird sich etwas über die Oper wundern.
Und wer diese Oper kennt, wird sich etwas über diese Inszenierung wundern. Es ist überall dieselbe Geschichte: Man bittet Künstler aus anderen Disziplinen um eine erste Opern-Inszenierung, weil man sich davon neue Impulse für ein jüngeres Publikum erhofft. Das ist dem Videoperformer Cyril Teste gelungen: seine Inszenierung aus 2018 (nun wiederaufgen-ommen) war „neu“ und zog viele Jugendliche an dem von mir besuchten Premierenabend in die Opéra Comique, die sonst wahrscheinlich nicht so schnell in eine Aufführung von „Hamlet“ von Ambroise Thomas gekommen wären. Sein Konzept ist „heutig“: die Darsteller – Hamlet in Turnschuhen und Ophelia in Jeans – werden gleichzeitig „live“ gefilmt und man sieht schon während der Ouvertüre riesengroß auf dem Bühnenportal, wie die Sänger sich vorbereiten und zur Bühne laufen. Dort werden sie quasi während der ganzen Vorstellung durch ein Kamerateam gefilmt: Man sieht also das Bühnengeschehen und gleichzeitig wie es auf den Leinwänden wirkt, die auch noch quasi pausenlos auf der Bühne hin und her kurven. Mit einigen schönen Bildern/Filmen (wir sind in Frankreich und nicht im deutschen „Regie-Theater“), aber für mich wurde es recht anstrengend wegen der permanenten Reizüberflutung. Und in den wichtigsten Monologen, Hamlets „To be or not to be“ (Hier: „Être ou ne pas être… Ô mystère! Mourir!… dormir!“) und vor allem Ophelias Wahnsinnsarie, wo Video „innere Bilder“ hätte bringen können, versagt die Regie völlig. Schlicht und einfach, weil dem Regisseur das dafür nötige Handwerk fehlt. Das ist besonders schade, weil die musikalische Umsetzung vom Feinsten war und die Hauptdarsteller so etwas wie eine Idealbesetzung sind.
Wunderbares Dirigat mit einer Idealbesetzung
Louis Langrée hat feinfühlig das ihm vertraute Orchestre des Champs-Elysées und den Chor Les éléments dirigiert, mit denen er schon 2018 angetreten war. Wunderschön klangen zum Beispiel die vielen Einlagen, die außerhalb des Orchestergrabens gespielt wurden, nicht nur hinter der Bühne, sondern auch hinter dem Saal, also im Foyer und in den Gängen – was der Musik, die durch die geschlossenen Türen in den Saal drang, oft etwas Unwirkliches gab. Subtil auch ein Chor, der noch „à bouche fermée“ singen kann. Und für das erste Saxophon-Solo der Operngeschichte – die Pariser Oper war damals sehr stolz auf ihre vielen neuen Instrumente! – ließ man den Musiker auf die Bühne kommen. Was schon etwas beinahe Komisches hatte, da wir dieses Instrument heute mit Jazz verbinden und nicht als Unheil-verkündende Todesmusik des „Meurtre de Gonzague“. Die Hauptrolle ist ein Bariton – damals sehr ungewöhnlich, aber eine Forderung der Pariser Oper für den Ausnahme-Sänger Jean-Baptiste Faure, der auch ein begnadeter Schauspieler war und als Hamlet ein Publikumsmagnet. (Es gibt Porträts von Manet von ihm als Hamlet in der Oper von A. Thomas!) Für Ophélie war die schwedische Sängerin Christine Nilsson vorgesehen, da Hamlet ursprünglich in Dänemark spielt und Ophelia für die Pariser Poeten (Hugo, Verlaine, Rimbaud etc) aus … Norwegen kam. (Nilsson wurde ebenfalls durch Alexandre Cabanel in dieser Rolle porträtiert.) Die Oper wollte die blonde junge Frau zu einer neuen „schwedischen Nachtigall“ stilisieren wie Jenny Lind. Die beiden Hauptrollen haben also bei A. Thomas mehr zu singen als bei Shakespeare zu sprechen!
Hamlet ist eine Traumrolle für einen schauspielbegabten Bariton: fast 3 Stunden lang quasi permanent auf der Bühne, mal ausgelassen (die berühmte chanson bachique „Ô vin, dissipe la tristesse qui pèse sur mon coeur“), provozierend „verrückt“ und meist melancholisch mit Tiefgang (deswegen eben ein Bariton). Stéphane Dégout, der die Rolle 2018 schon gesungen hat, liefert ein fulminantes, sehr differenziertes Rollenporträt, man könnte beinahe sagen eine Idealbesetzung (er hatte am Premierenabend hörbare Schwierigkeiten in zwei Arien und keinen guten Regisseur zur Seite).
Sabine Devieilhe kann man uneingeschränkt eine Idealbesetzung nennen: als Sängerin braucht man sie, wie Stéphane Dégout, wohl nicht mehr vorzustellen; in dieser Rolle bringt sie genau die von dem Komponisten erwünschte, unmanierierte „nordische Unschuld“. Ihre „schwedische Ballade“ „Pâle et blonde dort sous l’onde profonde la Willis au regard de feu!“ gehörte zu den musikalischen Höhepunkten des Abends. Was wäre aus ihrer wahnsinnigen Wahnsinnsarie mit einem guten Regisseur geworden (unten ein Link mit der Arie in dieser Inszenierung auf Youtube). Jérôme Varnier, den wir vor zwanzig Jahren noch als Sarastro erinnern, konnte den beiden als sonorer Geist des verstorbenen Vaters absolut das Wasser reichen. Laurent Alvaro, der vor zwanzig Jahren noch die kleine Rolle des Polonius sang, ist inzwischen ein überzeugender König Claudius, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt in seiner Reue-Arie „Je t‘implore, ô mon frère“ (auch durch Barbier & Carré erfunden). Als gute Comprimari: Nicolas Legoux (der viel in Österreich, u. A. in Erl gesungen hat) als Polonius, Geoffroy Buffière (Horatio) und Yu Shao (Marcellus). Géraldine Chauvet als Gertrude ist ein eigenes Thema, denn sie sprang am Tag der Premiere für die Covid-positive Lucile Richardot ein – nur für eine Vorstellung.
Wie die Opéra Comique sich durch die Pandémie schlägt
So wie ich es bei der Wiederöffnung der französischen Opern und Theater im Juni 2021 geschrieben habe, kann man fairerweise keine Vorstellung mehr rezensieren ohne zu erwähnen in welchen Bedingungen die Darsteller zur Zeit hier arbeiten (müssen). Für den normalen Bürger werden hier die Corona-Auflagen jeden Tag weniger und man erwägt, sie vielleicht gänzlich abzuschaffen. Alles ist geöffnet und für einen Opernbesuch braucht man keinen Test (nur den „Green Pass“) – was auch erklärt, warum alle Vorstellungen, die ich seit Anfang Dezember besucht habe, eine Auslastung von an die 100 % hatten/haben. Doch für die Mitarbeiter der Theater gelten strenge Protokolle, die sich jeden Tag ändern und z.B. an der Pariser Oper für Vorstellungs-Absagen in letzter Minute sorgten (wie am 24. Dezember). Die Opéra Comique hat sich bewundernswert durch die Pandemie geschlagen. Bei der letzten Premiere, Gounods „Roméo et Juliette“ im Dezember, mussten Juliette (Julie Fuchs) an der Generalprobe und Roméo (Jean-François Borras) am Tag der Premiere als Covid-Positive absagen und dann 10 Tage in Quarantäne (die inzwischen in Paris aufgehoben wurde). Unter abenteuerlichsten Bedingungen konnte Ersatz gefunden werden und alle Vorstellungen stattfinden. Jetzt gibt es für jede Rolle, auch jeden Choristen und Orchestermusiker, ein Double für jede Vorstellung, die natürlich alle auch zumindest einmal geprobt haben müssen. In diesen Umständen musste die Inszenierung aus 2018 geändert werden, weil z.B. aus-dem- Saal-Singen für Solisten (ohne Maske) nicht mehr erlaubt ist. Choristen (nun alle mit Maske) dürfen das wohl. Auch im Orchester waren nun alle maskiert (außer die Bläser), einschließlich der Dirigent. Dass Louis Langrée in diesen Umständen mit seinem großen Team noch so liebevoll und differenziert zu musizieren wusste, kann man ihm gar nicht hoch genug anrechnen. Auch für die gute Laune, die trotz allem in seinem Theater herrschte (Garderoben und Bars sind nun geschlossen). In solch schwierigen Zeiten braucht man eben einen Intendanten mit Erfahrung, guten Nerven und vor allem großer Liebe zu diesem Metier.
Waldemar Kamer / 26.01.2022
Opéra Comique bis zum 3. Februar: www.opera-comique.com
Ophélies Wahnsinnsarie: https://www.youtube.com/watch?v=8Iyw2ESUt3M
(eine der schönsten Sopranarien der französischen Oper des 19. Jahrhunderts. Sabine Devieilhe in dieser Arie in dieser Inszenierung, von der es auch ein DVD gibt.)