Ein Hausgesetz der Pariser Oper besagt, dass ein „Opernabend“ mindestens zwei Stunden dauern muss (einschließlich Pause). Da haben Einakter wie „Herzogs Blaubarts Burg“ einen schweren Stand. Denn „Cavalleria rusticana“ und „Pagliacci“ gibt man meist zusammen; bei Puccini kombiniert man traditionell die bekanntesten Einakter zu einem „Trittico“ oder spielt „Gianni Schicchi“ mit einem anderen kurzen Werk (in Paris zum Beispiel „L’Heure Espagnole“ von Ravel). Doch bei „Blaubart“, der einzigen Oper von Bela Bartok (1918), hat man es schwer. Gerard Mortier kombinierte 2007 in Paris „Blaubart“ mit dem „Tagebuch eines Verschollenen“ von Janacek, einer noch seltener gespielten Oper. Denn die kleine „Kammer-Oper“ von Janacek nach „23 Gedichten eines Unbekannten“, wurde 1921 für Sänger und Klavier komponiert. Mortier bat Gustav Kuhn aus Erl, das Werk „im Sinne Bartoks“ neu zu orchestrieren – was Kuhn auch gut gelang. Acht Jahre später kommt „Blaubart“ nun wieder auf den Spielplan, nur dieses Mal zusammen mit der „Voix humaine“ von Francis Poulenc. Die originelle Idee stammt vom Regisseur Krystof Warlikowski. Das Konzept geht auf.
John Relea in Barbe-Bleue
Der Theaterregisseur Warlikowski und seine Ausstatterin Malgorzata Szcesniak sind in Frankreich für ihre Vorliebe für düstere Ambiente mit Badezimmern und Toiletten bekannt, die in wirklich jeder ihrer Inszenierungen zu sehen sind. In diesem Fall ist es jedoch passend, denn in des Grafen oder Herzogs Blaubarts Schloss oder Burg (das abstrakt-träumerische Libretto bleibt in solchen Fragen recht vage) ist es dunkel, kalt und düster. Blaubarts neue Frau Judith will Licht in diese alten Gemäuer bringen und öffnet sieben Türen, hinter denen sie die Vergangenheit ihres Mannes sucht. Sie findet eine Folterkammer, eine Waffenkammer, eine Schatzkammer, eine Wiese, wo Blumen auf Blut blühen und einen See aus weißen Tränen. In der siebten Kammer findet sie drei Frauen, mit denen Blaubart den Morgen, den Mittag und den Abend seines Lebens zugebracht hat. Hier wird sie eingeschlossen, um „die Nacht“ mit ihm zu verbringen. Warlikowski inszeniert dies alles mit den Stilmitteln, die wir vor ihm kennen. Auf einer Leinwand sehen wir Auszüge aus dem Film „La Belle et la Bête“ von Jean Cocteau (1946), frei nach den Märchen von Perrault, die auch Bartok inspiriert haben. Dann Bilder eines kleinen Jungen (die Unschuld), der (die) mit Blut befleckt wird – bis der Junge real auf der Bühne erscheint und mit einem weißen Kaninchen spielt. Graf Blaubart erscheint mit Smoking und Cape als Graf Dracula, der auch einige Zauberkünste beherrscht (er hat das Kaninchen am Anfang der Vorstellung aus seinem Hut gezaubert). Er wird von dem amerikanischen Bass John Relyea , der etwas an Samuel Ramey erinnert, eindrucksvoll gespielt und gesungen. Neben ihm verbleicht die Russin Ekaterina Gubanova, was aber nicht unbedingt an ihren Gesangskünsten liegt, sondern eher an dem vagen Rollenprofil der Judith. Gubanova bekam in dieser komplexen Partitur auch wenig Unterstützung aus dem Graben, wo das Orchester der Pariser Oper den genauen Anweisungen von Esa-Pekka Salonen nur bedingt folgen konnte/wollte. Stimmte die Chemie nicht mit dem Dirigenten oder dem Werk? In der darauf folgenden „Voix humaine“ spielten sie viel besser, sodass Bartok unerwarteter Weise einmal im Schatten von Poulenc stand.
„La Voix humaine“ ist ein in Frankreich bekanntes und relativ häufig gespieltes Werk. Ursprünglich 1930 ein Theaterstück von Jean Cocteau für die Comédie Française, wurde es 1959 von Poulenc für die Opéra Comique vertont. Das Thema kreist um das „adultère bourgeois“, den Ehebruch in bürgerlichen Verhältnissen, womit man ungefähr alle Stücke von Feydeau und Guitry zusammenfassen könnte. Cocteau modernisierte das alte Sujet, indem er das Telefon als „Mordwaffe“ einsetzte: ein Mann ruft an, um sich (am Tag vor seiner Hochzeit?) definitiv von seiner langjährigen Lebensgefährtin zu trennen und bittet sie, seine Liebesbriefe dem Chauffeur zu übergeben, der sie am nächsten Tag abholen wird. Poulencs Verleger dachte bei diesem Einakter für eine Sängerin (und ein Telefon) an Maria Callas, doch Poulenc wollte nur für Denise Duval komponieren, seine „Lieblingssängerin“, die beinahe alle Hauptrollen seiner Opern uraufgeführt hat. So wie die heute noch lebende Korrepetitorin Jeannie Reiss es oft und gerne erzählt, beeinflusste Frau Duval maßgeblich einige Rollen, die Poulenc für sie komponiert hat. In diesem Fall hat sie bei den Proben vor versammelter Mannschaft gesagt: „Hör mal, Poupoule („lieber Gockel“), wer singt das, Du oder ich? Könntest Du das bitte so umschreiben, dass ICH das auch singen kann?“. In der Folge von Duval wird „La Voix humaine“ meist von etwas älteren Sängerinnen aufgeführt, wie zum Beispiel Gwyneth Jones oder Magda Olivero, oft zusammen mit mondänen Stücken wie „La dame de Monte-Carlo“ (auch von Cocteau/Poulenc). Stets wird eine elegante Dame von ihrem Liebhaber verlassen, der vermutlich eine Jüngere gefunden hat. So haben wir es mindestens ein Dutzend Mal gesehen.
Barbara Hannigan als „Elle“
Doch in diesem Fall hat sich Warlikowski auf das ursprüngliche Stück von Cocteau zurückbezogen, das – wenn man es genau liest – viel dramatischer ist als die Oper des vornehmen und fröhlichen Poulenc. Und allein schon dadurch, dass Warlikowski die Hauptrolle mit einer bildschönen, jungen Frau besetzt, bekommt die Geschichte eine vollkommen andere Dimension. Es ist nicht mehr eine ältere „Marschallin“, die ihren Liebhaber großzügig an eine Jüngere abgibt, sondern eine Liebende, die grausam von der „Liebe ihres Lebens“ verlassen wird. So weit wir wissen, hat bis jetzt nur Roberto Rosselini in seinem viel zu wenig bekannten Film „Amore“ mit Anna Magnani (1948) die dramatische Dimension der „Voix humaine“ inszeniert. Und so wurde es im Pariser Palais Garnier plötzlich totenstill als eine junge Frau mit einem Revolver auf der Bühne erschien. Sie weinte und die Schminke lief über ihr Gesicht. Sie ließ sich zuckend auf die Erde fallen und fing an, mit einem Unbekannten zu „telefonieren“. Barbara Hannigan war so eindrucksvoll, dass das Publikum ihr wirklich atemlos zuhörte, und dass man alles Andere vergaß. Es wurde plötzlich total unwichtig, ob sie nun ein Telefon in der Hand hielt oder nicht. Auf den Probenfotos kann man verfolgen, dass „Elle“ – die Frau der Voix Humaine – ursprünglich das gleiche Kostüm trug wie Blaubarts Judith, und dass sie mit einem Telefon herumlief. Doch irgendwann hatte Barbara Hannigan weder das weiße Kostüm nötig (es wurde durch einen Hosenanzug ersetzt, in dem sie sich besser bewegen konnte), noch das Telefon (auf das ganz verzichtet wurde). Und was sonst noch auf der Bühne geschah, interessierte niemanden mehr: ein blutverschmierter Tänzer kam (der Choreograph Claude Bardouil), doch er wurde genauso überflüssig wie der Schäferhund, der auch mal über die Bühne lief. Barbara Hannigan ist wirklich eine Ausnahmekünstlerin. Wegen ihres absoluten Gehörs wird sie in der modernen Musikszene hoch geschätzt und hat schon mehr als 80 Uraufführungen gesungen (zum Beispiel 2012 in “Written on Skin“ von George Benjamin, siehe Merker 7/2013 und 12/2013). Sie wurde mehrere Male zum „Künstler des Jahres“ gewählt (sie ist auch Dirigentin) und kann sich ihre Rollen aussuchen. So waren wir etwas erstaunt, diese Ausnahme-Sängerin, der wir eher bei Boulez, Dutilleux und Ligeti begegnen, nun bei Poulenc anzutreffen. Das hat wahrscheinlich mit dem von ihr hochgeschätzten Regisseur zu tun, für den sie vor Kurzem schon Lulu und Donna Anna in Brüssel gesungen hat. Und beide stellten nun ein Rollenprofil auf die Bühne, das wir für die „Voix humaine“ noch nie gesehen und gehört hatten. Nach den letzten Worten „Vas-y. Coupe! Coupe vite! Je t’aime, je t’aime, je t’aime“ folgten einige Sekunden betroffenes Schweigens – und dann erst ein Riesenapplaus. Diese Aufführung wird in die Rezeptionsgeschichte der „Voix humaine“ eingehen und hoffentlich dafür sorgen, dass sie von nun an öfters außerhalb Frankreichs gespielt wird. Wir sind schon gespannt, mit welcher anderen Oper sie dann kombiniert wird…
Waldemar Kamer, 3.12.2015
Fotos (C) Bernd Uhlig-Opera de Paris
Besonderer Dank an MERKER-Online-Paris