Bordeaux: „Manon“

Jules Massenet

12.4.2019

Frühlingserwachen für die schöne Manon, nun mit der bezaubernden Nadine Sierra

Die schöne Manon, das junge Mädchen, das allen Männern den Kopf verdreht, kann nun wieder voll und ganz ihre Reize ausspielen. In dieser Spielzeit steht sie in einem Dutzend europäischer Opernhäuser auf dem Spielplan, worüber wir uns sehr freuen. Denn viele Jahre sah man nur die „Manon Lescaut“ von Puccini und nicht die viel interessantere „Manon“ von Massenet. Dabei war „Manon“ nach „Carmen“ die meist gespielte Oper an der Opéra Comique: 1.649 Vorstellungen von 1900 bis 1950 (nur 150 weniger als „Carmen“), in einer Zeit als Massenet dort konkurrenzlos der meistgespielte Komponist war. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich Vieles und wurde Massenet hauptsächlich in den USA gespielt, wo Beverly Sills ab 1952 in Manon die „Rolle ihres Lebens“ sah (so wie sie es in ihrer Autobiografie beschreibt), die sie jahrzehntelang fantastisch verkörpert hat (wie es noch auf ihren Platteneinspielungen zu hören ist). In den neunziger Jahren wollte Renée Fleming diese „Traumrolle für eine Sängerin“ als Platte aufnehmen, doch Angela Gheorgiu war ihr um ein Haarbreit zuvorgekommen, und Fleming bekam „Thaïs“, (aufgenommen in Bordeaux mit dem Orchestre National Bordeaux Aquitaine). Fleming wandte sich daraufhin an die Pariser Oper, wo „Manon“ nur einmal zu Liebermans Zeiten im Palais Garnier gespielt worden war, und sie bekam vom Intendanten Hugues Gall eine ganz wunderbare Produktion, mit der sie ab 1997 immer wieder einen ihrer größten Erfolge an der Opéra de Paris feierte.

Nun steht wieder eine Amerikanerin auf der Bühne, die es an Schönheit und angeborener Eleganz schon optisch mit ihren Vorgängerinnen aufnehmen kann (auch Sibyl Sanderson, Massenets Lieblingssängerin und rollenprägende Manon, war eine bezaubernde Amerikanerin). Die aus Florida gebürtige Nadine Sierra ist eine Senkrechtstarterin seit sie 2013 den Wettbewerb „Neue Stimmen“ gewann (und viele andere auch) und hat – noch keine 30 Jahre alt – schon Gilda an der Scala, der Met, in Berlin und Paris gesungen. Der Dirigent und inzwischen auch Direktor der Oper in Bordeaux Marc Minkowski hat ein besonders gutes Ohr für junge Talente und wusste sie für dieses Rollendebüt nach Bordeaux zu engagieren. Nadine Sierra war der Stern des Abends, sah nicht nur wunderschön aus und gestaltete die vielen Arien der Manon mit Eleganz und dem so wichtigen „raffinement“, u.a. in den kleinen Verzierungen und lupenreinen Trillern, so wie man sie heute nicht mehr so oft hört. Ihr Französisch war (noch) nicht perfekt, aber das von Beverly Sills auch nicht, die trotzdem jahrzehntelang als die unangefochtene „Rollenträgerin“ galt. Nadine Sierra debütierte nicht nur als Manon, es war das allererste Mal, dass sie auf Französisch sang, und wir sind sicher, dass solch eine intelligente und hochbegabte Künstlerin, auch dieses bald lupenrein beherrschen wird.

Für ihre hoffentlich bald nächste „Manon“ wünschen wir ihr einen anderen Regisseur, der sich wirklich in das Stück vertieft. Denn was Olivier Py – den man nicht mehr vorzustellen braucht – hier fabriziert hat, war im Gegensatz zu vielen seiner gelungenen Inszenierungen bodenlos schlecht. Py interpretierte „Manon“ als ein Stück über Frauenmisshandlung und Prostitution und begründet diesen Ansatz im Programmheft mit der Frage, ob Massenet die Vorlage, den bekannten Roman des Abbé Prévost, „wirklich gelesen hat“. Das ist genauso abstrus, als ob man fragen würde, ob Wagner das „Nibelungenlied“ und den „Parzival“ wirklich gelesen hat. Denn Massenet war ein ausgesprochener Kenner des 18. Jahrhunderts und ist für die Komposition von „Manon“ sogar extra nach Den Haag gefahren, um das Zimmer zu sehen, in dem der Abbé Prévost 1743 seinen Roman geschrieben hat – so wie es der Dramaturg der Opéra de Bordeaux Laurent Croizier zwei Seiten weiter im gleichen Programmheft beschreibt. Py macht aus der leichten Galanterie des „siècle galant et léger“ eine gewalttätige Orgie, in der sich der Marquis de Sade und Casanova köstlich hätten ausleben können (so Py).

Wie soll Nadine Sierra uns in ihrer Auftrittsarie „je suis encor tout étourdie“ überzeugen, in der sie als 15-jähriges Mädchen aus der Postkutsche steigt, um ins Kloster geführt zu werden, wenn sie in dieser Inszenierung in einem billigen Bordell landet, wo sie als Nutte arbeiten soll und halbnackt ihre Beine spreizt. Wie soll sie uns am Ende der Oper in ihrer Sterbearie berühren, in der sie, nur noch mit einem Hemdchen bekleidet, vom Gefängnis in die Verbannung abtransportiert wird, wenn sie in der Inszenierung dann in Abendrobe mit Tiara durch ihren Zuhälter mit Diamanten überhängt wird? etc. Die provozierende Regie ging beinahe kontinuierlich gegen das Stück und oft auch gegen die Musik, mit einem Maß an Nackedei und Sexualität vor, das auch Casanova als „vulgär“ abgestempelt hätte.

Als Chevalier des Grieux war ein anderer junger Senkrechtstarter engagiert, nämlich der französische Tenor Benjamin Bernheim, den man inzwischen auch schon an der Wiener Staatsoper hören konnte. Doch in der von mir besuchten Vorstellung sang Thomas Bettinger. Schön, dass junge Sänger aus Bordeaux nun auch mit großen Kollegen auf der Bühne stehen dürfen, aber Bettinger war entweder vollkommen durch die Rolle überfordert oder schwer indisponiert (was man hätte ansagen müssen). Das brachte viele Ensembles aus dem Lot, vor allem mit seinen beiden männlichen Gegenspielern. Alexandre Duhamel, in bester Erinnerung als König Don Andrès de Ribeira der „Périchole“ (siehe Merker 11/2018), trumpfte mit sonorer Stimme als Lescaut auf und Laurent Alvaro war als Comte des Grieux neben Nadine Sierra der beste Sänger des Abends. Seine Arie „Epouse quelque brave fille“ war einer der musikalischen Höhepunkte, indem wir uns an José van Dam erinnerten (ganz wunderbar in dieser Rolle). Olivia Doray, Adèle Charvet und Marion Lebègue waren ein junges und spritziges Trio Poussette, Javotte und Rosette, Antoine Foulon ein überzeugender Hotelier, doch Philippe Estèphe und Damien Bigourdan einfach zu jung für die Rollen der alten Lebemänner Monsieur de Brétigny und Guillot de Morfontaine (eigenwillig umgetauft in „Mortfontaine“, „toter Brunnen“).

Marc Minkowski begleitete die Sänger so gut er konnte, was nicht immer einfach war, weil das Orchestre National Bordeaux Aquitaine oft viel zu laut spielte. Den durch Salvatore Caputo vorbereiteten Choeur de l’Opéra de Bordeaux haben wir auch schon besser gehört. Doch die schöne Manon, in Frankreich ein Inbegriff für alles was süß und teuer ist – ihretwegen werden auch noch heute viele Bäckereien und Pralinen nach ihr benannt -überstand dies alles ohne mit der Wimper zu zucken. Die Produktion reist nun weiter nach Paris an die Opéra Comique (7-21 Mai) in einer teilweise veränderten Besetzung, nun mit Patricia Petibon als Manon. Wieder eine begabte junge Sängerin! Waldemar Kamer

Opéra National de Bordeaux: www.opera-bordeaux.com

Opéra Comique: www.opera-comique.com

Waldemar Kamer 16.4.2019

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

Fotos (C) Eric Bouloumié