Mainz: „Turandot“, Giacomo Puccini

Lieber Opernfreund-Freund,

eine Turandot der besonderen Art ist derzeit in Mainz zu erleben. Puccinis Schwanengesang wird als das von ihm fertiggestellte Fragment gezeigt und Tausendsassa Gianluca Falaschi verlegt das Märchen in ein US-amerikanisches Casino der 1980er Jahre. Dabei ist so einiges nicht, wie es auf den ersten Blick scheint.

© Andreas Etter

Als sich der Vorhang hebt, fühlt man sich sofort um Jahrzehnte zurückversetzt und glaubt sich auf dem Ball der Ölbarone aus Dallas, nur dass der irgendwo in einem abgeranzten Vorstadtcasino in den Südstaaten stattzufinden scheint: Pailletten, Schulterpolster und auftoupiertes Haar sowie Cowboyhüte, soweit das Auge reicht. Gianluca Falaschi, der nun schon zum dritten Mal am Mainzer Haus Regie führt und in dieser Turandot zudem für Kostüme und Bühne verantwortlich zeichnet, zieht alle Register, die er als einstiger Kostümbildner gelernt hat, und versetzt den Zuschauer innerhalb eines Wimperschlages in die richtige Stimmung für das Spiel des Abends: Als Preis im Casino winkt Turandot, dem unglücklichen Spieler allerdings droht der Tod. Gerade geht es dem Prinzen von Persien an den Kragen – Loser hat man ihm auf den nackten Bauch geschrieben – und als sich die Titelheldin dann erstmals im schwarzen Kostüm samt Hut mit atemberaubender Krempe zeigt, ist auch sie nicht, was man glauben soll: sie ist ähnlich abgehalftert wie das Casino, eine alte unansehnliche Version einer Grand Dame – schließlich macht sie das Rätsel-Kopf-ab-Spiel schon ein paar Jahre, vielleicht Jahrzehnte – die versucht, die Fassade aufrecht zu halten.

© Andreas Etter

Der zweite Akt beginnt in einer Höllenküche im Untergeschoss, in der die drei Minister die Leichen der Verlierer zerstückeln – optisch nichts für Zartbesaitete – und sich in eine schönere Welt träumen. Und als Liu am Ende des Finalakts verblutet ist, hat Turandot dafür nichts als Gelächter übrig. Für die Eisumgürtete bleibt alles ein Spiel. Falaschi wählt mitunter eine drastische Bildsprache, so dass sich das Staatstheater gar bemüßigt gefühlt hat, eine Warnung vor sensiblem Inhalt der Produktion auf die Webseite zu stellen, doch tut er dies nicht zum Selbstzweck. Er zeigt die Brutalität hinter dem Märchen, Prinzessin Turandot sehnt sich bei ihm nicht heimlich nach Liebe, sie zeigt vielmehr so viel Unverständnis für dieses Gefühl, dass sie es nicht ernst nehmen kann. Über optischen Bombast hinaus versteht er zudem, mittels lebendiger Personenführung eine nie langweile Produktion auf die Bretter zu bringen.

© Andreas Etter

Musikalisch liegt der Abend in den Händen von Francesco Cilluffo, der mit einer klaren, akzentuierten Version von Puccinis fulminanter Partitur aufwartet. In der Titelrolle reüssiert Julja Vasiljeva, die mich schon mit ihrem In questa reggia in ihren Bann zieht, das sie facettenreich weit jenseits des gebrüllten Dauerforte so mancher Kollegin mit zahlreichen Piani spickt. Ihre Gegenspielerin Liu findet in Julietta Aleksanyan eine nicht allzu zarte Gestalterin voller Gefühl, während sich Puccini selbst den Calaf nicht stimmgewaltiger hätte vorstellen können, als mit Antonello Palombi besetzt, der sich von Beginn an jeder tenoralen Herausforderung förmlich entgegenwirft und mit nicht Enden wollender Kraft auf ganzer Linie abliefert. Beim Ministergespann aus Gabriel Rollinson, Collin André Schöning und Mark Watson Williams ist der erstgenannte primo inter pares mit seinem ausdrucksstarken Bariton, während Stephan Bootz als Timur mit einer herzzerreißenden Beweinung Lius den klanglichen Schlusspunkt des Abends setzt.

© Andreas Etter

Der blendend aufgelegt Chor unter der Leitung von Sebastian Hernandez-Laverny überzeugt mit reichlich Spielfreude und stimmlicher Präsenz und bekommt zu Recht viel Applaus, als sich der Vorhang hebt. Das ausverkaufte Haus ist auch vom übrigen Ensemble begeistert und bejubelt es kräftig. Dass jedoch die Unsitte der inflationären standing ovations auch vor dem Mainzer Publik nicht halt macht, ist schade – vor allem für das wohl 80jährige Rentnerehepaar auf meinen Nachbarplätzen, das wegen der flugs aufgesprungenen beiden Damen vor uns in der ersten Reihe des Seitenparketts gar nicht mehr sehen kann, für wen es klatscht. Ich freue mich immer, wenn Menschen begeisterungsfähig sind und einen tollen Abend hatten – aber einem noch so entzückenden Rücken zu applaudieren, ist nicht wirklich schön.

Ihr
Jochen Rüth, 22. Mai 2025


Turandot
Oper von Giacomo Puccini

Staatstheater Mainz

Premiere: 17. Mai 2025
besuchte Vorstellung: 21. Mai 2025

Regie, Bühne und Kostüme: Gianluca Falaschi
Musikalische Leitung: Francesco Cilluffo
Philharmonisches Staatsorchester Mainz

weitere Vorstellungen: 28. Mai, 8. und 19. Juni sowie als Wiederaufnahme in der kommenden Spielzeit ab dem 7. September 2025