Straßburg: „Quai West“, Régis Campo (1968)

Welturaufführung am 27.09.2014

Ohne Ausweg: Bodensatz, Marginalisierte der Gesellschaft

Quai Ouest, das ist ein verlassenes und heruntergekommenes Lagerhaus am Hudson River. Personen weit von (unter) der Mitte der Gesellschaft haben sich diese Industriebrache zur „Heimat“ ausgewählt: das Ehepaar Rodolfe und Cécile, Einwanderer aus Lateinamerika mit ihren Kindern Claire und Charles. Zwischen ihnen leben der Mulatte Abad, ein abgestumpftes Individuum, und Fak, dessen Abgefeimtheit und Bosheit Abscheu und Angst zugleich hervorruft. Als Titel der Oper dient nicht wie meistens üblich ein Name oder auch ein historischer Vorgang, sondern nur der Ort: Quai West. Dort hinein stoßen Maurice Koch und seine Begleiterin Monique Pons. Koch hat durch beruflichen Misserfolg seine Existenz verspielt, Monique ist wohl seine Geliebte oder Sekretärin. Er will sich in ein Hafenbecken stürzen um sich umzubringen. Die Ankunft dieser Personen bringt am Quai West etwas in Unordnung. Sie fahren im Jaguar vor; auch ein paar wertvolle Utensilien bis zu einer Rolex bleiben Koch noch. Fak will Claire an die Wäsche und Maurice Koch ausrauben. Rodolfe ist ein hasserfüllter abgestumpfter Kriegsveteran und hasst sogar seinen eigenen Sohn, den er am Ende von dem Mulatten Abad erschießen lässt, nachdem der auch schon Koch erledigt hatte, dessen Selbstmordversuch zuvor gescheitert war. Keine klassische Handlung mit Exposition, Verwicklung und Auflösung, sondern erratisch, ein wenig zufallsbasiert; nicht zielstrebig; auch Milieudarstellung und Zeichnung der einzelnen Charaktere, die den Ort bevölkern, herren- und gesetzloses Landam Rande des Styx. Es gibt keine Hauptperson, sondern alle sind gleichwichtig, selbst die stumme Rolle des Mulatten. Es bleibt alles offen; etwas Ähnliches könnte sich am nächsten Tag wieder ereignen; denn Quai Ouest verschwindet ja nicht.

Hendrickje van Kerckhove (Claire), Mireille Delunsch (Monique), Marie-Ange Todorovitch (Cécile), Christophe Fel (Rodolfe), Julien Behr (Charles), Augustin Dikongue (Abad), Paul Gay (Maurice Koch), Fabrice di Falco (Fak)

Der Opernstoff basiert auf dem 1985 uraufgeführten (Regie: Patrice Chéreau) gleichnamigen Schauspiel des frz. Autors Bernard-Marie Koltès, aus welchem der Regisseur Kristian Frédric und Florence Doublet in zweijähriger Arbeit das Libretto erstellt haben, zuletzt unter intensiver Mitwirkung des Komponisten, als der schon konkrete Ideen von seiner Partitur, sogar von den Darstellern hatte. Dabei haben diese Autoren kein Wort Text hinzugefügt, nur gekürzt und umgestellt (naturgemäß bei den Ensembles). In dieser einmaligen Konstellation lag das Regiebuch schon in großen Teilen vor, als die Komposition begann, und es ist eine Produktion von großer Geschlossenheit und starker Wirkung entstanden. Absicht, Realisierung und Wirkung gehen hier absolut konform. Zur Nachahmung unbedingt empfohlen (ganz im Gegensatz zu der UA von „The Outcast“ in der vergangenen Spielzeit in Mannheim, wo die Komponistin einige Tage vor der Uraufführung wutentbrannt abgereist ist.) Beim späteren Nachspielen des Werks kann das so nicht mehr erreicht werden, wenn der Regisseur dann mehr als nur nachbauen will.

Die Oper weist deutlich Verwandtschaft zu einem Film auf: rein äußerlich schon das zeitliche Format von 90 Minuten Spieldauer (das auch bestens in den Pragrammrahmen des Fernsehens passt); aber auch die Struktur in 31 teilweise sehr kurzen Sequenzen mit ihren schnellen Übergängen (allerdings keine Schnitte oder Überblendungen); knappe lapidare Texte, nie poetisch, manchmal platt; das Offenlassen vieler Zwischenräume. Die Autoren geben auch tatsächlich an, vom Film der 80er Jahre beeinflusst gewesen zu sein. Die Thematik würde aber auch gut in die heutige Kinowelt passen: Verzweiflung, Habgier, sexuelle Begierde, Gewalt und Mordlust. Ein Stück platte Gesellschaftskritik darf auch nicht fehlen: „der Himmel ist nur für die Reichen“ (Wozzeck: „wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen“). Zwar enthält der Stoff auch Komisches, vor allem Monique mit ihrem affektierten Verhalten bar jeden Verständnisses; das geht schon in die Richtung einer schwarzen Komödie. Aber in keine der dargestellten Situationen möchte man persönlich involviert sein: es ist der Anti-Ort mit bindungslosen Anti-Personen.

Mireille Delunsch (Monique Pons), Paul Gay (Maurice Koch)

Quai West, als Titel und Ort der Handlung muss mit-inszeniert werden. Meisterhaft gelingt dies mit dem Bühnenbild von Bruno de Lavière, dessen naturalistisch detailtreue alte Stahlkonstruktion eine mit Ziegelsteinen ausgemauerte Fachung mit Fenstern und Durchgängen zeigt. Bedrückend wirkt dieses alte Gemäuer auch dann, wenn es sich in Segmente sich zerteilt und sich drehend und verschiebend wieder neu ordnend einen Durchblick auf den bezogenen Himmel im ersten Abendlicht zeigt: Dämmerung! (Urindustriearchitektur, die an die von Chéreaus Rheingold erinnert). Aber die Segmente wird auch bühnenbreit zur undurchdringlichen Mauer zusammengesetzt wie ein Gefängnis: ausweglos und unentrinnbar. Zum Schluss wird es Nacht. Würde man das Stück als modernen Film sehen, wäre der wahrscheinlich mit Fäkalsprache und einem Übermaß an Gewalt garniert. Obwohl die Oper auch mit dem Mord des Mulatten mittels einer MP-Salve an Charles endet und eine Vergewaltigungsszene hinter einem schwach erleuchteten Fenster Täter (Fak) und Opfer (Claire) charakterisiert, bleibt die Regie bei allem gebotenen Realismus doch meistens einen halben Schritt im Abstrakten, Unheimlichen, Rätselhaften, das sich aus dem Stück von Koltès ergibt. Die ausdrucksstarken Kostüme von Gabriele Heimann runden die gelungene Inszenierung ab.

Marie-Ange Todorovitch (Cécile); Hendrickje van Kerckhove (Claire), Julien Behr (Charles)

Für Campos‘ Musik wird ein normales etwa fünfzig-köpfiges Sinfonieorchester mit Harfe eingesetzt, dazu verstärktes Schlagwerk, E-Gitarre, Bass-Gitarre und Synthesizer. Somit steht ein breites Spektrum konventioneller und moderner Klangabmischungen und -Einspielungen zur Verfügung. Die tonale Musik baut auf der postromantischen Klangwelt auf und zeigt große Nähe zum Minimalismus, aber nicht streng, sondern eher verspielt und wie von Janacek abgeleitet. Die Themen werden verwoben und durchgeführt und geben den Solisten einen sängerfreundlichen Klangteppich: Manchmal erläutert die Begleitmusik auch, was in den Protagonisten vorgeht. In den kurzen Instrumentalstellen, Ouvertüre und Interludien beweist sich Campo auch als Meister der dichten Instrumentierungskunst. Kaum dissonant und vielfach sehr suggestiv in den Motiven nähert sich die Partitur auch der Filmmusik. Das mächtige Schiffshorn weist den Zuhörer gleich in der Ouvertüre ein, wo er sich den Spielort vorzustellen hat. Warum aber sind hispanisierende Elemente einkomponiert, wo doch die Einwanderer aus den Anden kommen und in ihre Sprache sog sogar Quechua einsprengen? – Das Orchestre symphonique de Mulhouse musizierte unter der Leitung des Nürnberger GMD Marcus Bosch sehr engagiert und brachte die Partitur mit bester Präzision, nuancierten Farbgebungen und sehr anregender Dynamik zur Geltung. Der große, von Sandrine Abello einstudierte Opernchor sang textlos und klangschön grundierend hinter der Szene. hatte aber nach der nach der MP-Salve, die Charles niedergestreckt hatte, dann doch die letzten Worte im Epilog: „In God we trust“ allerdings mit dem zweifelnden Zusatz „Do we?“ Kein beruhigendes Schlusswort.

Marie-Ange Todorovitch (Cécile)

Régis Campo hat die Vokalmusik passend zur Prosodie der französischen Sprache gesetzt, so dass schon von vornherein die Voraussetzung für eine gute Textverständlichkeit gegeben war. Dazu kam, dass sechs der Gesangssolisten französische Muttersprachler waren, die siebte so gut wie. Insgesamt hatte die Besetzung ein homogenes beachtlich hohes Niveau, so dass hier keine Wünsche übrig blieben. Neben deklamatorischen Passagen ist der Gesang in kantablen Ariosi geschrieben, so dass er auch für konventionelle Hörgewohnheiten keine Probleme bereitet. Auch Stilelemente des Chansons sind eingearbeitet. – Paul Gay war als Maurice Koch besetzt und verlieh dieser Rolle sowohl mit seiner Bühnenerscheinung als auch mit seinem überaus kraftvollen Bassbariton Glaubwürdigkeit. Als seine Begleitung Monique Pons wurde die elsässische Sängerin Mireille Delunsch von „ihrem“ Publikum gefeiert; auch sie von – ansehnlicher Erscheinung – überzeugte mit ihrem leuchtenden jugendlich-dramatischen Sopran. Hendrickje van Kerckhoves beweglicher lyrischer Sopran gefiel in der großen Rolle der Claire; auch schauspielerisch ließ sie keine Wünsche offen. Die Mutter Cécile war in bester Operntradition eine tiefe Frauenstimme; Marie-Ange Todorovitch verlieh ihr ihren glutvollen, mit klaren Tiefen ausgestatteten Mezzosopran. In einem großen Terzett vereinigten die drei Sängerinnen ihre Stimmen zum gesanglichen Höhepunkt der Oper. Wie der Komponist im Programmheft angibt, hat er sich zu diesem Ensemble aus dem finalen Rosenkavalier-Terzett anregen lassen. Den Charles sang Julien Behr mit nicht zu hellem Tenormaterial von angenehmem Schmelz. Die kleinere Rolle des Rodolfe gab böse mit voluminösem, kernigen Bass Christophe Fel. Fabrice de Falco sang und spielte den widerlichen Fak so überzeugend, dass einem das Messer in der Tasche aufgehen konnte; in die Gesangspassagen für seinen kraftvollen Counter waren immer wieder tiefe Töne geschrieben, für die er sich in seinem baritonalen Natur-Register stützte. Der stummen Rolle des Mulatten Abad verlieh Augustin Dikongue charakteristisches Profil.

Christophe Fel (Rodolfe), Augustin Dikongue (Abad)

Es entspricht unserem Zeitgeist, dass solch ein trostloser Stoff nicht nur auf der Schauspielbühne gezeigt wird, sondern auch als Oper verarbeitet wird. Wer auf der Opernbühne nicht nur heile Welt und immer die gleichen Klamotten sehen will, kommt bei Quai West mit dieser Produktion bestens auf seine Kosten; die durchweg gelungene Inszenierung und die bemerkenswerte Qualität der musikalischen Darbietungen ließen den großen Beifall, den das Stück am Ende erhielt, durchaus gerechtfertigt erscheinen. Nur vier Mal wird das Stück im Elsass gegeben (noch am 30.09. und 02.10. in Straßburg; dann am 10.10. in der Filature in Mülhausen). Am 07.01.2015 kommt es für sieben Aufführungen auf die Bühne des koproduzierenden Staatstheaters in Nürnberg. Dort soll es in einer deutschen Übersetzung gegeben werden; so wird es also noch einmal uraufgeführt.

Manfred Langer, 29.09.2014
Fotos: Alain Kaiser