Lüttich: „Eugen Onegin“, Peter Tschaikowsky

Besuchte Vorstellung: 26. Oktober 2021

Normaler Weise muss sich das Publikum an der Opera Royal im belgischen Liege keine große Gedanken über das machen, was auf der Bühne passiert, denn hier bekommt man die Opern so präsentiert, wie sie im Libretto stehen. Bei der Neuproduktion von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ versetzt Regisseur Eric Vigie die lyrischen Szenen aber in die Zeit der Oktoberrevolution, was dem Publikum einige ungewöhnliche Ansichten präsentierte.

Der erste Akt findet weitgehend in dem bekannten ländlichen Idyll statt, man fragt sich lediglich, was die Uniform zu bedeuten hat, die Onegin trägt. Am Ende von Tatjanas Briefszene verkünden Lichtblitze das Nahen der Revolutionstruppen. Im zweiten Akt wird deutlich, dass Onegin Kommunist ist, und sich mehr für die Revolution als für Tatjana interessiert. Das Fest feiern die siegreichen Kommunisten, welche das Landgut beschlagnahmen. Ein deutscher Regisseur hätte Madame Larina, Olga und die Amme Filipyena, die später nicht mehr auftauchen, von den Rotarmisten erschießen lassen, hier will Olga aber sogar mitfeiern.

Auch Lenski, der hier ein Anhänger des Zaren ist, wird nicht hingerichtet, sondern stirbt im Duell. Im dritten Akt feiert sich die neue kommunistische Führung zwischen Statuen von Lenin und Stalin. Gremin ist ein Parteibonze, Tatjana ist als seine Frau zur Society-Lady der Kommunisten geworden. Die Lesart von Eric Vigie ist spannend, könnte aber noch drastischere Szenen und mehr Konsequenz vertragen.

Ausstatter Gary McCann hat einen weißen Einheitsraum mit einer sich öffnenden Rückwand geschaffen. Wechselnde Schauplätze werden mit Landschaftsbildern, einem Gartenpavillon und den Statuen gestaltet.

Musikchefin Speranza Scapucci dirigiert eine abwechslungsreiche Aufführung, findet in den vielfältigen Situationen des Stückes immer den richtigen Ton: Die romantischen Szenen sind von einem sehnsuchtsvollen und schwärmerischen Streicherklang geprägt, in den sich weich die Holzbläser mischen. Die großen Chorszenen und Feste tönen mit blechstrotzender Kraft.

Die Besetzung besteht fast durchweg aus Interpreten, die zum ersten Mal in Liege auftreten. Vasily Ladyuk besitzt einen warmen und eleganten Bariton. Den schroffen und abweisenden Charakter Onegins glaubt man ihm aber nicht. Auch wirkt er für den kommunistischen Revolutionär zu freundlich. Mit schönem lyrischen Sopran füllt Ruzan Mantashyan die Rolle der Tatjana aus.

Den Wandel vom naiv-schwärmerischen jungen Mädchen zu Ehefrau Gremins gestaltet sie überzeugend.

Olga wird von der erst 23-jährigen Maria Barakova mit schönem lyrischen Mezzo gesungen. Margarita Nekrasova als Kinderfrau Filipeyvna sticht im Eröffnungsquartett durch die Härte ihrer Stimme heraus, die Erzählung ihrer Zwangsverheiratung singt sie dann aber sehr eindringlich. Alexey Dolgov gefällt als Lensky mit seinem kultivierten Tenor, man hätte ihm aber noch mehr Farbe und Süße gewünscht. Mit einem monumentalen Bass beeindruckt Ildar Abdrazakov in der Partie des Fürsten Gremin.

Mit dieser Produktion präsentiert sich die Opera Royal einmal mehr auf dem hohen musikalischen Niveau, für das das Haus bekannt ist. Gleichzeitig ist es ungewöhnlich, dass Regisseur Eric Vigie eine eigenständige, aber schlüssige Sichtweise des Werkes präsentiert.

Rudolf Hermes, 28.10.21

Bilder (c) J. Berger ORW