Lüttich: „La Bohème“

Wiederaufnahmepremiere: 20.09.2020, besuchte Vorstellung: 26.09.2020

Geburtstagsparty mit Weltstars

Lieber Opernfreund-Freund,

den Beginn der Jubiläumsspielzeit 2020 begeht die Opéra Royal de Wallonie-Liège mit einer Reprise der Bohéme-Produktion, die 2016 in Zusammenarbeit mit der Israelischen Oper in Tel Aviv entstanden ist – und wartet dabei mit Weltstar-Beteiligung auf. Angela Gheorghiu ist dabei als Mimì zu erleben, der ebenfalls aus Rumänien stammende Stefan Pop steht ihr als mehr als ebenbürtiger Rodolfo zur Seite.

Vor mehr als 30 Jahren hat Angela Gheorghiu als Mimì ihr Operndebüt gegeben, ist in dieser Rolle 1992 erstmals am ROH in Covent Garden aufgetreten und hat damit ihren Weltruhm begründet. Es mag also vermutet werden, dass die als kapriziös geltende Diva diese Figur wie kaum eine andere kennt – und das spürt man am gestrigen Abend von dem Moment an, an dem sie die Bühne des Opernhauses in Lüttich betritt. Im traditionellen Setting des Hauschefs Stefano Mazzonis di Pralafera legt sie die totkranke Blumenstickerin zu Beginn noch immer lyrisch-verträumt an und präsentiert feinste Höhenpiani, zu denen sie auch im letzten Bild zurückkehrt. Im unteren Register allerdings wird der Klang ihrer Stimme fast kehlig, ihr Gesangsstil verisitischer – und so gelingt es ihr, den dritten Akt vollends zu dem ihren zu machen. Mit immensem Ausdruck macht sie da die Verzweiflung ihrer Figur deutlich, die erkennen muss, dass sie bald sterben wird und ihre Liebe zu Rodolfo ohnehin keine Zukunft hat. Bei dieser Art der Interpretation fällt mir unwillkürlich eine andere großartige Sopranistin aus Rumänien ein, Virginia Zeani, der in den 1960er und 70ern ebenso der Wechsel von der umjubelten Violetta oder Mimì hin zu Charakterrollen des italienischen und französischen Fachs, zu Komponisten wie Menotti, Poulenc oder Zandonai gelang.

Ihr Landsmann Stefan Pop war mir vor ein paar Jahren schon beim Donizetti-Festival in Bergamo aufgefallen und ist auch auf den internationalen Opernbühnen der ersten Klasse kein Unbekannter mehr. Das verdankt er seiner bombensicheren Höhe und dem immensen Glanz, den seine Stimme verströmt, deren Brillanz im oberen Register mich mehr als einmal an den jungen Luciano Pavarotti erinnert. Das immense Gefühl, das der sympathische Tenor über den Graben schickt, ist schlicht als traumhaft zu bezeichnen; zudem spielt er grandios und ist Angela Gheorghiu ein würdiger Partner. Die Musetta von Maria Rey-Joly hat flammend rote Haare und ebenso viel Feuer in der Stimme. Sie ist kokett und frech und bildet stimmlich wie optisch (tolle Kostüme aus der Zeit zwischen den Weltkriegen: Fernand Ruiz) einen Gegenpol zur ruhigen und besonnenen Mimì. Und auch Ionut Pascu zieht als Marcello alle Register, zeigt seinen facettenreichen Bariton und komplettiert so in idealer Weise das Vierergespann.

Neben solch hochkarätigen Bühnenerscheinungen – stimmlich wie darstellerisch – fällt es dem Rest des Ensembles schwer, den eigenen Rollen Profil zu verleihen; hier bleiben Chancen ungenutzt, selbst Collines eher halbherzig vorgetragene Mantelarie hat man Sekunden nach dem provozierten Szenenapplaus schon wieder vergessen. Der Chor (Einstudierung: Denis Segond) singt im zweiten Akt hinter herabgelassenen Prospekten, die den wandelbaren Unterbau der Mansarde, den Carlo Sala gebaut hat, bei offenem Vorhang blitzschnell ins Café Momus verwandeln. So bleibt die Inszenierung von Mazzonis di Pralafera über weite Strecken intim – und erfährt auch in Coronazeiten keine Anpassung. In Belgien gibt es hier ohnehin andere Regularien als hierzulande: das Publikum verfolgt die komplette Vorstellung mit Maske (der Saal kann mit einer Auslastung von rund 60 Prozent besetzt werden), in der verkürzten Pause gibt es keine Bewirtung; dafür sind auf der Bühne keine Mindestabstände einzuhalten, die Darsteller werden jedoch zweimal wöchentlich getestet.

Eine Änderung zur Produktion von 2016 gibt es aber dennoch: die Orchestrierung. Man greift hier auf eine von Ricordi veröffentlichte Version von Gerardo Colella für kleines Orchester zurück, die zur Entstehungszeit des Werkes ermöglichen sollte, dass die Bohéme auch an kleinen italienischen Theatern aufgeführt werden konnte. Das klingt anders als gewohnt, gerade die schwelgerischen Pucciniklänge mögen sich mit reduzierter Streicherzahl nicht vollends entwickeln – und doch ist diese Version eine interessante Alternative. Durch die Änderungen treten teilweise einzelne Stimmen deutlicher hervor und ermöglichen so einen anderen Blick auf die Partitur. Der französische Dirigent Frédéric Chaslin gibt in dieser Produktion sein Debüt am Haus und ihm gelingt das Kunststück, den musikalischen Charakter des Werkes auch mit weniger Musikern vollends zu entfalten. Er gibt der Partitur durch teils recht gemäßigte Tempi Zeit, sich zu entwickeln, ist dem Sängerpersonal eine wertvolle Stütze und macht den wunderbaren Abend auch musikalisch rund.

Das Theater, das heuer seinen 200. Geburtstag feiert, ist im Rahmen der derzeitigen Möglichkeiten ausverkauft – und das Publikum ist zu Recht begeistert und applaudiert frenetisch. Eine derart gelungene Geburtstagsparty mit solch wunderbar aufgelegten Gästen würde ich mir auch wünschen.

Ihr
Jochen Rüth

27.09.2020

Fotos © Opéra Royal de Wallonie-Liège