Lüttich: „Manon Lescaut“

Premiere am 19.09.17

Klassisch bebildertes Melodram

Lieber Opernfreund-Freund,

das königliche Opernhaus der Wallonie in Lüttich tut sich seit Jahren mit einem Spielplan hervor, der sich durch eine gelungene Mischung aus Repertoireklassikern und selten bis seltenst gespielten Raritäten auszeichnet. So plant das Haus in der gestern begonnen Saison 17/18 neben „Rigoletto“, „Carmen“ und „Le Nozze di Figaro“ unter anderem auch Donizettis „Favorite“, Rossinis „Donna del lago“ und Aubers „Domino noir“. Die Spielzeit eröffnen durfte allerdings Puccinis heutzutage neben seiner „Tosca“, der „Bohéme“ oder „Madama Butterfly“ ein wenig stiefmütterlich behandelte „Manon Lescaut“.

Das 1893 uraufgeführte Werk ist die dritte Oper des Italieners und gleichzeitig die, die seinen Weltruhm begründete. Nach seinem kurzen und durchaus beachteten Erstling „Le Villi“ und dem bis heute eher erfolglosen „Edgar“ zeigt der Komponist in den ersten beiden Akten von „Manon Lescaut“ viel melodiöse Kurzweil und in der zweiten Hälfte vor allem große Gefühle, ausladende Melodienbögen und die gehörige Portion Drama, die ab da beinahe all seinen Werken zu eigen ist. Puccini hatte sich gegen die Bedenken seines Verlegers Ricordi durchgesetzt, den Stoff auf der Grundlage des Romans des Abbé Prévost zu vertonen, da Massenets Komposition zur gleichen Vorlage bereits 1884 ihren Siegeszug quer durch Europa angetreten hatte. Doch der Luccheser wischte die Einwände beiseite, seine Manon werde eine voller italienischem Gefühl, während das französische Werk geprägt sei von „Menuett und Puderquaste“. Und der Erfolg gab ihm Recht.

Die szenische Realisation in Lüttich liegt, wie so oft, beim Hauschef Stefano Mazzonis di Pralafera, dessen Regiestil stets eng am Libretto orientiert und deshalb geradezu prädestiert ist für eine erste Begegnung mit einem Werk. Dass das nicht zwingend langweilig sein muss, zeigt der Italiener auch gestern, beginnt durchaus beschwingt, wobei er als einzige Aktualisierung eine Verlegung der Handlung von der zweiten Hälfte des 18. ans Ende des 19. Jahrhunderts, also die Entstehungszeit des Werkes vornimmt. Nicht an einer Poststation begegnen sich Manon und des Grieux zum ersten Mal, sondern auf einem wuseligen Bahnhof. Die herrlichen zeitgenössischen Kostüme von Fernand Ruiz zeigen ein buntes Kaleidoskop der Mode bei Arm und Reich zu jener Zeit und in den ersten drei Akten gibt sich auch Bühnenbildner Jean-Guy Lecat durchaus Mühe mit einer liebevollen Bebilderung der Geschichte, fährt Säulen, Türen, Treppen und Chaiselounges, im dritten Akt gar einen Mississippi-Dampfer auf. Umso liebloser gestaltet erscheint dann der Schlussakt, in dem zwei an Popup-Zelte erinnernde Sandhügel die Wüstenlandschaft von Louisiana darstellen sollen.

Auch Mazzonis di Pralafera verlässt da sein Gespühr für zwischenmenschliche Spannungen und er postiert Manon und ihren Liebsten wie zwei vergessene Mehlsäcke fast statisch an die Hügel gelehnt und nimmt der bewegenden Schlusszene dadurch einiges an Wirkung. Durch die aufwändigen Umbauten zwischen den ersten drei Akten sind zudem zwei Pausen notwendig, so dass das an sich straffe Werk auf eine Gesamtspielzeit von rund drei Stunden kommt. So ist man beinahe froh, wenn es die als verwöhntes Luxusweibchen, das trotz aller Liebe nicht aus seiner Haut kann, gezeichnete Titelfigur am Ende dahinrafft. Das ist schade, liegt doch gerade ein Reiz dieser Oper in der Konzentriertheit und der rasanten Entwicklung hin zur Katastrophe.

Ganz und gar keine Katastrophe ist erneut die Auswahl des Sängerpersonals in Lüttich. Gastsänger Marcello Giordani als Des Grieux überzeugt mit imposantem Tenor voller Kraft und italienischem Schmelz und auch seine Partnerin Anna Pirozzi, die eine stimmlich reife, vollblütige Manon gibt, die im Schlussakt zu Höchstform aufläuft, steht ihm kaum nach.

Überraschung des Abends ist für mich allerdings Ionaut Pascu als halbseidener Lescaut. Sein eindrucksvoller Bariton ist voller Farben, die Bühnenpräsenz des Rumänen ist enorm. Dem Lütticher Haus seit Jahren verbunden ist der Belgier Marcel Vanaud, der gestern als lüsterner Geronte zu sehen war, während der junge Marco Ciaponi als gewitzter Edmondo mit schlankem Tenor einen überzeugenden Einstand gab.

Hauspremiere gab es auch im Graben. Die neue Chefdirigentin an der ORW, die Römerin Speranza Scappucci, leitete erstmals eine Opernpremiere, begann direkt mit forsch-rasanten Tempi und zeigte nicht nur im impressiven Intermezzo eine gehörige Portion italienischer Seele ganz in Puccinis Sinne. Das lässt aufhorchen und macht Lust auf mehr. Die Damen und Herren des Chores sind bestens aufgelegt, Pierre Iodice hat sie vorbildlich betreut, und so wird’s ein musikalisch runder Abend.

Das Publikum im gewohnt bestens besuchten Haus ist begeistert, goutiert allerdings, wie ich, die musikalische Leistung mehr als die szenische Umsetzung. Und doch ist es ein lohnender Abend, den ich Ihnen gerne empfehle.

Ihr Jochen Rüth / 20.09.2017

Die Fotos stammen von Lorraine Wauters.