Lüttich: „Otello“

Premiere: 16.06.2017, besuchte Vorstellung: 20.06.2017

Mantel-und-Degen-Otello

Lieber Opernfreund-Freund,

dem königlichen Opernhaus der Wallonie in Lüttich gelingt in den vergangenen Jahren immer wieder das Kunststück, Opern in recht traditionellem Gewand auf die Bühne zu bringen und dabei zu zeigen, dass das weder langweilig noch altbacken wirken muss. Bei Verdis spätem Meisterwerk „Otello“, das noch bis zum Ende das Monats zu erleben ist und dessen zweite Vorstellung ich mir gestern für Sie angesehen habe, ist dies leider nicht der Fall.

Stefano Mazzonis di Pralafera erzählt die Geschichte dermaßen verstaubt, dass einem – man mag es sich bei Verdis spannender Partitur gar nicht vorstellen – stellenweise beinahe zum Gähnen ist. Es ist an sich nichts dagegen einzuwenden, wenn man dieses psychologisch so vielschichtige Stück ganz ohne Deutung erzählt, sich dafür von Ausstatter Carlo Sala ein paar Säulen samt Palmen und Holzthron auf die Bühne stellen und Fernand Ruiz durchaus variantenreiche und detailverliebte Kostüme schneidern lässt, die ohne weiteres der Uraufführung des Werkes entstammen könnten. Wenn man aber selbst in den eindrucksvollsten Momenten wie beispielsweise Jagos Credo den Rest der Bühne mit Statisten und umherhüpfendem Kinderchor belebt, so dass eher Wimmelbilder entstehen, als dass eine Konzentration auf das Wesentliche gelänge, dann bleibt doch nur ein oberflächlicher Bilderbogen statt einer stringenten Erzählung des Dramas.

Vor 100 Jahren mag man von einem „Otello“ noch auf Tischen ausgetragene Fechtduelle und eine mit meterlang beschlepptem Mantel umherschreitende Titelfigur erwartet haben, heutzutage ist das für dieses Sujet dann doch ein wenig zu wenig. Da nützt es auch nichts, wenn sich Mazzonis di Pralafera mittels Pseudo-Symbolik mit den Anhängern des Regietheaters gut stellen will. Dass die Protagonisten auf Rollwagen hereingeschoben werden und so fremdgesteuert erscheinen (sollen) oder dass Jago im Schlussakt – von Cassio hinterrücks erdolcht – die Bewegungen des sterbenden Otello spiegelt, bleiben als Einzelbilder ohne Anbindung an ein Konzept so wirkungslos wie Schiffe und Fische, die man in ein in den ersten beiden Akten omnipräsentes und nachher nicht wiederkehrendes Aquarium kippt (in der Pause war schon gewettet worden, ob Desdemona hierin ertränkt würde…).

Ähnlich wenig tiefgründig präsentiert uns Paolo Arrivabeni Verdis ausgefeilte Partitur. Ob der Lütticher Orchesterchef am gestrigen Dienstag wenig Lust auf Verdi hatte oder ihm die Hitze zu schaffen machte? Ich habe den gebürtigen Italiener bisher durchaus als leidenschaftlichen Interpreten des italienischen Repertoires kennenlernen dürfen; gestern aber konnte er die Wucht von Verdis „Otello“ nur ansatzweise freilegen, zeigte ein recht uninspiriertes Dirigat voller wackliger Einsätze und konnte am ehesten in den ruhigen Passagen des Werkes überzeugen.

Also muss es das Sängerpersonal richten. Und das tut es überzeugend, allen voran Startenor José Cura in der Titelrolle. Der Argentinier zeigt, dass er auch 20 Jahre nach seinem Rollendebüt noch zuhause ist in der tenoralen Königsklasse. Klingen seine „Esultate“-Rufe noch recht forciert, steigert er sich von Takt zu Takt und zeigt stimmlich wie darstellerisch überzeugend den rasend eifersüchtigen, am Ende gebrochenen Mann, der Otello ist. Dabei ist er gerade dann am stärksten, wenn er sich nicht nur auf bloße Kraft stützt, sondern behutsam tiefe Gefühle über den Orchestergraben transportiert und so beispielsweise im Schlussbild Gänsehaut erzeugt. Mit Cinzia Forte steht ihm eine zarte Desdemona zur Seite, die das tut, was die Regie versäumt: sie legt die Figur als in ihrem Selbstverständnis auf den unausweichlichen Tod zulaufende Frau an, da sie die Liebe und das Vertrauen ihres Mannes verloren hat, so engelsgleich ist ihr Gesang im letzten Akt. Der intrigante Gegenspieler Jago findet in Pierre-Yves Pruvot einen feinsinnigen Gestalter, der zwar das absolut Böse in seiner Stimme vermissen lässt, doch mit durchschlagendem Bariton und gewinnendem Spiel überzeugt. Giulio Pellegria zeigt als Cassio seinen feinen, höhensicheren Tenor, Alexise Yerna ist eine energische Emilia und Roger Joakim ein eindrucksvoller Lodovico. Die Damen und Herren des Chores, von Pierre Iodice betreut, meistern ihren ausufernden, höchst schwierigen Part meisterlich und mit viel Sinn auch für die leisen Töne.

Begeistert zeigt sich das Publikum im trotz 35 Grad Außentemperatur voll besetzten Haus von der sängerischen Leistung. Der enthusiastische Applaus lässt merklich nach, als der Dirigent auf die Bühne tritt. Und genauso ergeht es mir in meinem Empfinden. Auch wenn ich nicht als Regietheaterfanatiker bekannt bin, hätte hier zudem doch etwas weniger Museum dem Abend gut getan.

Ihr
Jochen Rüth

21.06.2017

Fotos © Opéra Royal de Wallonie-Liège