Lieber Opernfreund-Freund, nach mehr als 30 Jahren ist Cileas Adriana Lecouvreur derzeit in der Opéra Royal im belgischen Lüttich zu erleben. Die traditionelle und doch nie langweilige Lesart von Arnaud Bernard und seinem Team sowie die exzeptionellen Leistungen auf der Bühne bringen bei der Premiere am gestrigen Dienstag den Saal zum Toben.
Arnaud Bernard inszeniert die Geschichte um die Schauspielerin Adrienne Lecouvreur, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts wirklich gelebt hat und als bedeutendste französische Schauspielerin ihrer Zeit galt, aus der Perspektive der Künstler. Im quirligen Trubel der Hinterbühne der Comédie-Française lässt er die Handlung spielen, die übrigen Schauplätze werden in Minuten zwischen den einzelnen Akten bei offenem Vorhang aufgebaut, werden so zu bloßen Kulissen für das Drama der Schauspielerin, die zwischen politischen Interessen und Eifersucht aufgerieben wird und am Ende den wohl opernhaftesten Bühnentod der Opernliteratur – an einem vergifteten Veilchenstrauß, den ihr die Rivalin schickt – in vollendeter Bühnenmanier sterben darf. Bernard beschließt also seine Inszenierung konsequent in einer Vermischung zwischen Realität und Bühnengeschehen, fügt dem Spiel mit dem Theater im Theater so noch eine weitere Ebene hinzu. Virgile Koerings detailreiche Bühne bietet dazu den perfekten Rahmen, die Kostümabteilung darf sich bei den epochengerechten Entwürfen von Carla Ricotti so richtig austoben. In perfektem Einklang gelingt dem Produktionsteam trotz der traditionellen Interpretation eine originelle, nie langweilige Lesart der Geschichte.
Auf der Bühne zeigt Elena Moşuc in der Titelrolle, dass sie vom Koloraturfach kommt, trumpft mit zarten Höhenpiani auf und transportiert immenses Gefühl. Dabei wird sie immer wieder zur entschlossenen Kämpferin, der eindrucksvolle Ausbrüche in satter Mittellage gelingen. Auch Luciano Ganci gelingt die Gratwanderung, als Maurizio nicht nur der testosterongetriebene Kriegsheld zu sein, der dem Publikum die kraftvollen Spitzentöne mit schier endlosem Atem entgegenschleudert, sondern auch in zarten Phrasen gekonnt leise Töne anzuschlagen und mich mit seinem L’anima ho stanca zu Tränen zu rühren. Die Fürstin von Anna Maria Chiuri ist klanglich eine Wucht, zeigt bedrohliche Tiefe und gleichermaßen die wilde Entschlossenheit einer Frau, die wie eine Löwin um ihre Liebe kämpft. Dazu verfügt die Italienerin über eine sagenhafte Bühnenpräsenz. Der Michonnet von Mario Cassi überzeugt mich durch warme, beinahe samtene Baritonfarben.
Aus den zahlreichen kleineren Rollen sticht der Abbé von Pierre Derhet mit feinem Tenor und einem hervorragenden Gespür für komödiantisches Timing hervor, während der Chor unter der Leitung von Denis Segond die gewohnt sichere Bank ist, die man in Lüttich kennt. Zum Augenschmaus gerät das Ballett im 3. Akt zur Choreografie von Gianni Santucci auch Dank der Kostüme von Carla Ricotti. Im Graben präsentiert Christopher Franklin Cileas Partitur über weite Teile frech und voller Esprit, ist aber auch zu ausladendem Pathos und schwelgerischen Klangwogen fähig, in denen man sich schier verlieren möchte.
Am Ende des Abends ist das Publikum im ausverkauften Opernhaus restlos begeistert und applaudiert frenetisch. Lediglich die um mich herum platzierten belgischen Kritikerkollegen verharren ölgötzengleich, ohne auch nur einmal die Hand zu regen – angesichts des überaus gelungenen Opernabends eine befremdlich anmutende Nicht-Reaktion. Von der szenischen und musikalischen Qualität können Sie, lieber Opernfreund-Freund, sich auch überzeugen, ohne eigens nach Belgien zu reisen: Die Vorstellung am 18. April wird auf medici.tv live ins Internet übertragen und ist danach über mezzo.tv abrufbar.
Ihr Jochen Rüth 12. April 2023
Adriana Lecouvreur
Francesco Cilea
Lüttich
Besuchte Premiere: 11. April 2023
Inszenierung: Arnaud Bernard
Chorleitung: Denis Segond
Musikalische Leitung: Christopher Franklin
Orchestre de l’Opéra Royal de Wallonie-Liège
Weitere Vorstellungen: 14., 16., 18., 20. und 22. April 2023
Live-Stream am 18. April 2023 auf medici.tv