Seit dem Amtsantritt von Stefano Pace im Oktober 2021, bricht die Opéra Royal de Wallonie-Liège zu neuen Ufern auf. Unter seinen Vorgängern hatte sie ein ausgeprägt italienisches Profil und galt deswegen als „nördlichste Oper Italiens“. Nicht dass italienische Musik kein Hausrecht mehr hätte – Pace ist ja selbst Italiener und war zuvor der Intendant des Teatro Lirico Giuseppe Verdi in Triest – aber es werden nun besondere Werke ausgewählt. So gab der neue Musikdirektor Giampaolo Bisanti zu seinem Einstand 2022 eine absolute Rarität: Verdis kürzeste und am wenigsten gespielte Oper „Alzira“ (1845, nur 90 Minuten), die in vielen Opernführern gar nicht mal erwähnt wird (wir haben darüber berichtet). Seither wird vor allem am Orchester gearbeitet, das Bisanti mit viel Geschick auf neues Repertoire vorbereiten will. Denn Pace und Bisanti haben Großes vor: zum Auftakt dieser Spielzeit gab es „Katja Kabanowa“ – seit 25 Jahren nicht mehr in Lüttich gespielt – und nun „Tristan und Isolde“ – seit „100 Jahren“ nicht mehr. (Viele Zeitungen schrieben „seit 1926“, einem Gastspiel der Oper in Den Haag, aber offensichtlich gab es danach noch weitere). Für die jetzige Spielzeit lautet ihr Motto: „Wir legen immer großen Wert auf eine elegante und stimmige Inszenierung, sowie auf eine erstklassige Besetzung mit alten Bekannten, aber auch neuen Gesichtern“. So gibt es nun ein Rollendebüt mit Isolde und einen Altmeister der Regie, Jean-Claude Berutti (1952), im deutschen Sprachraum eher als Theater-Regisseur bekannt. Ich erinnere mich sehr gut an seine erste, bildschöne Opern-Inszenierung, „Louise“ von Charpentier in Brüssel: am 28 Januar 1983, auf den Tag vor 42 Jahren!
Das Vorspiel fängt mit einem Strand an, auf dem Tristan im altmodischen Rollstuhl mit weißem Anzug und Hut mit dem Rücken zum Publikum aufs Meer blickt. Als ob er schon in Kareol auf Isolde wartet? Seine Erscheinung erinnert an den sterbenden Aschenbach auf dem Lido in Thomas Manns bzw. Viscontis „Tod in Venedig“. Doch dann erscheinen Ärzte und Pfleger und wir verstehen, dass sich Tristan in einem Irrenhaus befindet und die ganze Geschichte in der Rückblende erlebt. – So kann man quasi jede Oper inszenieren und das haben wir schon Dutzende Male gesehen. Doch im ersten Akt sind wir wieder am Strand, aus dem mit wenigen Requisiten und zwei Segeln das Schiff wird. Schöne historische Kostüme von Jeanny Kratochwil, atmosphärische Beleuchtung von Christophe Forey und passables Bühnenbild von Rudy Sabounghi (von dem wir ganz Anderes gesehen haben, mit u. A. Luc Bondy und Klaus Michael Grüber). Erst jetzt verstehen wir, dass unser Tristan in Wirklichkeit ein Tristan-Double ist, nämlich der Schauspieler Thierry Hellin. Auch schon oft gesehen, aber hier durchaus vertretbar, da der Sänger-Tristan Michael Weinius ein Hüne ist, sowie der allererste Tristan Ludwig Schnorr von Carolsfeld, und ein solcher „Bär“ nicht eben singend in die Kniee gehen kann. So verlässt Thierry Hellin im zweiten Akt seinen Rollstuhl, um neben Isolde zu knien, während Michael Weinus hinter dem Rollstuhl steht – was perfekt funktioniert. Thierry Hellin ist für uns das Beste der ganzen Inszenierung, weil er der Einzige ist, der den ganzen Abend seine Rolle innerlich zu durchleben scheint (im Französischen gibt es den schönen Ausdruck „être habité“). Da hätte man ihm im Programm-Heft, wo er quasi als Statist aufgeführt wird, etwas mehr Beachtung schenken können (er wurde z.B. 2015 als bester belgischer Schauspieler ausgezeichnet). Aber auch er kann nicht retten, was ab Ende des zweiten Aktes szenisch versandet, quasi einfriert. Denn im dritten Akt sind wir wieder in der Klinik, wo eine frostige Kälte und Statik herrschen, die auch durch die Live-Videos-von-oben (siehe Foto) nicht durchbrochen werden. Tristan legt sich recht unmotiviert mitten auf die Vorderbühne, um Isolde zu erwarten. Doch das erhoffte Bild von Meer und Schiff taucht nie auf (das hätte der für die Videos zeichnende Julien Soulier mühelos einfügen können) und irgendwann fangen zwei Krankenschwestern an zu singen, ohne sich zu bewegen – Brangäne und Isolde. So einen gefühlskalten „Liebestod“ habe ich noch nie gesehen. Schade! Man hätte die guten Karten, die man in der Hand hatte, nur etwas anders ausspielen können…
Die musikalische Seite war weitaus erfreulicher, beginnend mit dem Isolde-Debüt des in Armenien geborenen lyrischen Soprans Lianna Haroutounian, die man an vielen großen Häusern hauptsächlich im italienischen Fach gehört hat (z.B. 2018 als Butterfly an der Wiener Staatsoper). Nun also zum ersten Mal auf Deutsch und dann auch noch gleich Wagner. Sie hat sich sehr gut vorbereitet und wurde voll und ganz durch Giampaolo Bisanti unterstützt, womit sie im Laufe des Abends immer mehr in ihre wunderschöne Stimme fand. Im ersten Akt wurde sie noch durch Michael Weinius quasi „an die Wand gesungen“, im zweiten Akt sangen sie ebenbürtig nebeneinander (nicht wirklich miteinander, also ohne ein wirkliches Verschmelzen) und ihr „Liebestod“ war sängerisch einwandfrei. Der schwedische Tenor Michael Weinius ist ein erfahrener Wagner-Sänger (erster Preis beim Wagner-Wettbewerb in Seattle 2008) und die Rolle des Tristan bereitet ihm nicht das mindeste Problem. Das ist schon sehr viel: Chapeau! Aber vielleicht liegen ihm Siegfried und Lohengrin – er hat schon alle großen Wagnertenor-Rollen gesungen – mehr als der melancholische Tristan? (Kommt ja von triste, traurig) Violeta Urmana ist nun seit einigen Jahren im Fachwechsel – vor zehn Jahren sang sie noch Isolde! Brangäne liegt ihr deutlich zu tief, was für ein unkontrolliertes Vibrato sorgt. Aber mit ihrer Bühnenerfahrung kam sie souverän durch den Abend. Evgeny Stavinsky besitzt wohl die nötigen tiefen Töne für König Marke, ist ein wunderbar sonorer Bass, aber eine emotionale Tiefe fehlt ihm in dieser Inszenierung – ein so kühles „Treuster aller Treuen“ habe ich noch nie gesehen und gehört. Alexander Marev als Melot, Zwakele Tshabalala als junger Steuermann und Bernhard Aty Monga Ngoy (aus dem Chor) als junger Seemann rangen noch etwas mit ihren Rollen (verständlich bei einer Premiere). Sie standen darstellerisch und auch in der vokalen Gestaltung im Schatten des deutschen Baritons Birger Radde (2023 Wozzeck an der Wiener Staatsoper und 2024 Melot in Bayreuth). Er war für uns als Kurwenal der beste Sängerdarsteller des Abends – Chapeau!
Alle Sänger wurden richtig durch Giampaolo Bisanti getragen, der auch immer Blickkontakt zu seinen Musikern hielt, so dass es schien, als ob er auswendig dirigieren würde.
Er kostete im Vorspiel quasi jede Note aus, mit vielen Pausen und nahm betont langsame Tempi, auch in der „Liebesnacht“. Doch wie auf der Bühne, so gab es auch im Graben mehr Nebeneinander als Verschmelzen: wir hörten die einzelnen Instrumentengruppen separat, der Rausch blieb aus. Und wie schonend und behutsam er auch mit seinen Musikern umging, ab dem Vorspiel des dritten Aktes zeigt das Orchester der Oper hörbare Ermüdungserscheinungen. Bei den Streichern (homogen, wunderbare Phrasierungen bis hin zu Passagen, in denen man die Bogenstriche nicht mehr hörte) hat sich die viele Vorbereitungsarbeit deutlich ausgezahlt, aber die Bläser hakten irgendwann ab mit zittrigen Einsätzen (bei offenem Graben hört man in Lüttich wirklich jeden einzelnen Musiker und dann reicht es, wenn einer müde wird…). Wie dem auch sei, Bisanti und seine Musiker bekamen den größten Applaus des fünfstündigen Abends – absolut verdient, denn es war/ist eine beachtliche Leistung!
Nächsten Monat geht es gleich weiter mit anderen Werken, die seit mindestens 25 Jahren nicht mehr in Lüttich gespielt wurden, und zwar mit Rossinis „Guillaume Tell“. Sehr passend, denn auf dem Deckengemälde des Opernsaals von Emile Berchmans (1903), sitzen Wagner und Rossini friedlich nebeneinander (was damals in Paris nach Augenzeugenberichten nicht unbedingt der Fall war). Ebenfalls noch im März „La Damnation de Faust“ von Berlioz (konzertant und mit Starbesetzung: Vittorio Grigolo, Erwin Schrott und Julie Bouliane). Im April Massenets „Werther“, worauf dann wieder gängige Operntitel folgen. Nächstes Jahr wird es eine Uraufführung geben, sogar ein Auftragswerk: „Bartleby“ des belgischen Komponisten Benoît Mernier. Nach der Novelle „Bartleby the Scrivener“ (1853) von Herman Melville, total anders als sein Seefahrer-Roman „Moby Dick“, eher eine Geschichte, die schon zu Kafka passt und in diesem Sinne sehr heutig ist. In Planung sind eine andere Oper von Wagner, von Smetana und Richard Strauss – doch Genaueres konnte Stefano Pace uns dazu jetzt noch nicht verraten. Man muss eben bedachtsam Schritt für Schritt vorgehen, wenn man „den Horizont erweitern“ will.
Waldemar Kamer, 1. Februar 2025
Tristan und Isolde
von Richard Wagner
Opéra Royal de Wallonie-Liège (Théâtre Royal)
Premiere am 28. Januar 2025
Inszenierung: Jean-Claude Berutti
Dirigat: Giampaolo Bisanti
Orchester und Chor der Opéra Royal de Wallonie-Liège