Premiere: 27.03.2022
Einschläfernde Schlafwandlerin
Lieber Opernfreund-Freund,
Preisträger des 27. Internationalen Gesangswettbewerbs von Clermont-Ferraud sind derzeit in einer großen Gemeinschaftsproduktion mit den Opernhäusern in Avignon, Clermont-Ferraud, Limoges, Massy, Reims und Vichy sowie dem Théâtre Impérial de Compiègne im Opéra-Théâtre Eurometropole de Metz zu erleben. In Bellinis Sonnambula überzeugen deren Stimmen weit mehr als die aktionsarme Inszenierung von Francesca Lattuada.
Dass Francesca Lattuada vom Tanz kommt, merkt man der Produktion kaum an. Zwar versucht sie, ihrer extrem statischen Lesart mit Chorchoreographie und einer zusätzlichen Tänzerin Bewegung einzuhauchen, doch ansonsten wird einfach viel herumgestanden in dieser Nachtwandlerin. Interaktion zwischen den Handelnden gibt es kaum und so werden die positiven und negativen Spannungen zwischen den Personen nicht deutlich, die Geschichte nicht wirklich erzählt. Stattdessen versucht Lattuada sich an zahlreichen Symbolismen mit dem Holzhammer, die Bruno Fatalot mit seinen hinreißenden Kostümen wunderbar bedient. Die auslandende Robe der intriganten Lisa erinnert an einen Drachen, der kapriziöse Rodolfo an einen Schmetterling, Ziehmutter Terese kommt in Weiß als reine Unschuld daher. Statt ihr im Glauben an ihre Untreue bloß den Verlobungsring zu entreißen, entwürdigt der eifersüchtige Elvino die brave und schlafwandelnde Amina, indem er ihr die Haare vom Kopf reißt, um ihr im Moment der Versöhnung eine christusgleiche Dornenkrone aufs blanke Haupt zu setzen. So entstehen teils alptraumartige, verstörende Bilder an der Grenze zum Surrealen, die doch nichts erzählen. Da helfen auch die holzschnittartigen Kulissen und das teils grobe Licht von Christian Dubet nicht, auch wenn ihm zum Ah non credea mirarti ein bezaubernder Moment gelingt. Das ist schade, bietet doch die in unseren Breiten vergleichsweise selten aufgeführte Belcantoperle weit mehr als die weltberühmte Schlussszene.
Nicht nur die meistert die junge Russin Julia Muzychenko, die beim erwähnten Gesangwettbewerb gleich vier Preise einheimste, mit Bravour. Scheinbar mühelos perlen da die Koloraturen, immens viel Gefühl legt sie in ihre farbenreiche Stimme und überzeugt mich auch darstellerisch auf ganzer Linie. Die hohen Spitzentöne, die sie dem Publikum entgegenschmettert, zeigen eine Spur Schärfe, doch das tut dem Genuss keinen Abbruch. Schade, dass einem gerade das brutale Schlussbild von Francesca Lattuada da die Begeisterung im Halse stecken lässt. Bombensichere Höhe bringt auch Mario Ciaponi als Elvino mit. Mit nicht enden wollender Kraft stürzt er sich in die Partie, legt viel Gefühl in die Liebes- und viel Furor in die Eifersuchtsszenen. Imposant und kraftvoll präsentiert sich auch Alexey Birkus als Rodolfo, den die Regie aber nur ehrfurchtgebietend herumstolzieren lässt. Der aus Weißrussland stammende Bass ist ein weiterer Preisträger, ebenso wie Francesca Pia Vitale, die als berechnende Lisa mit außerordentlicher Geläufigkeit zu glänzen versteht und nicht nur Dank des tollen Kleides nachhaltig Eindruck macht. Isabel de Paoli verströmt als Teresa viel Wärme mit ihrem ausdrucksstarken Mezzo, während sich der in letzter Minute für den erkrankten Clarke Ruth eingesprungene Paul Gay als Alessio wacker schlägt.
Der glänzend disponierte Chor, von der Regie meist einfach ans hintere Ende der Bühne gestellt, wenn er nicht an Verrenkungen erinnernde Choreografien ausführen muss, überzeugt mit fein abgestimmten Stimmen; Thomas Palmer hat ihn betreut. Im Graben entfacht Beatrice Venezi ein italienisches Feuerwerk, legt großen Wert auf die Emotionen, die in Bellinis Partitur stecken, und macht so mit dem Orchestre national de Metz die musikalische Seite des Nachmittags vollends zu einem Erfolg. Das Publikum ist nach knapp drei Stunden begeistert, applaudiert den Interpretinnen und Interpreten frenetisch. Da Metz bereits die vierte Station der Gemeinschaftsproduktion ist, ist das Produktionsteam bei der Premiere nicht mehr anwesend. Zu gerne hätte ich gesehen, ob Lattuadas Arbeit die Metzer ebenso wenig überzeugt hat, wie mich.
Ihr
Jochen Rüth
29.03.2022
Die Fotos stammen von Luc Bertau.