Zürich: „Elektra“

Drei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs: Da ist zuerst einmal die Titelfigur, die von unbändigen Rachegelüsten heimgesuchte Elektra, Tochter des von ihrer Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth im Bade ermordeten Agamemnon. Evelyn Herlitzius stellt diese junge Frau mit einer unglaublichen Bühnenpräsenz, einer darstellerischen Wucht und unerschöpflicher Kraft dar. Eine Darstellung, die wahrlich unter die Haut geht, wo jede Regung, jede textliche Phrase direkt in Mimik und Gestik übergeht, sie verkörpert die Agamemnon Tochter mit jeder Faser ihres schlanken Körpers. Da stimmt jeder Blick, jede Bewegung mit dem Text überein. Dazu kommt eine Kraft in der stimmlichen Gestaltung, vor der man sich – gerade in dieser so überaus anspruchsvollen Partie – nur verneigen kann. Klar, da stimmt nicht jeder Ton, wirkt die auch Höhe mal etwas beliebig, unsauber intoniert (dafür punktet sie mit ausdrucksstarker Tiefe) – doch diese kleinen Einschränkungen verschwinden hinter dem packenden Gesamteindruck der totalen Verschmelzung mit und Hingabe an Musik und Text.

Genauso ist diese Hingabe auch bei Waltraud Meier als von Alpträumen heimgesuchte Gattenmörderin Klytämnestra zu spüren. Frau Meier gestaltet ihre grosse Szene mit einer grandiosen Intensität, sauberer Intonation, ohne ins Klischee der hysterisch keifenden Alten abzugleiten. Da wird jede Phrase mit bezwingender Emotion und Kalkül gestaltet, dynamisch subtil abgestuft und doch mit einer fantastischen vokalen Präsenz. Ganz gegen meinen Eindruck, den ich vor vier Jahren von ihrer Interpretation an der Deutschen Oper Berlin hatte. Bestimmt kommt ihrer klugen Darstellung das kleinere Zürcher Haus entgegen. Am Ende ihres Auftritts, wenn sie vom (vermeintlichen) Tod ihres Sohnes Orest erfährt, verzichtet Frau Meier auf das übliche dreckige Gelächter. Bei dieser grossartigen Darstellerin reicht ein verachtend-triumphierender Blick auf ihre Tochter Elektra. Das vokale Ereignis des Abends ist aber eindeutig Tamara Wilson als sich nach dem „Weiberschicksal“ verzehrende Schwester Elektras, Chrysothemis. Natürlich hat Strauss dieser Frau auch seine „schönsten“ Phrasen in seiner wilden Elektra-Partitur gewidmet und Tamara Wilson füllt sie mit ihrem farbenreichen, so herrlich aufblühenden, reinen Sopran aufs Vortrefflichste. Welch eine Stimme, man würde sie gerne öfter an diesem Haus hören. Sie stellt eine Chrysothemis dar, welche ein starkes Gegengewicht zu der sich in irrer Rache suhlenden Elektra von Evelyn Herlitzius bildet. Die Auseinandersetzungen der beiden Schwestern fahren tüchtig ein, sind atemberaubend. Diesen Sog verdankt die Aufführung der vierten Frau, welche diese Wiederaufnahme von Martin Kušejs Inszenierung von 2003 zum spannungsgeladenen Psychothriller macht – nämlich der Dirigentin Simone Young! Sie kitzelt das Nervenaufreibende, Schockierende genauso präzise aus der Partitur, wie das (wenige) Zärtliche, das Empfindsame, die verlorene Unschuld am Atridenhof. Die Philharmonia Zürich bietet ein wahrhaft fulminantes Saisonfinale, hat sich die Sommerpause nach diesem Parforce-Ritt mehr als verdient.

Martin Kušejs Sicht auf das Psycodrama gefällt mir jedes Mal besser. Der dunkle Bühnenraum von Rolf Glittenberg mit seinem hermetisch abgeriegelten, sich nach hinten stark verengendem Korridor und den schalldichten, weiss gepolsterten Türen und dem unebenen Boden schafft eine fantastisch passende, von seelischer Krankheit und Verstümmelung geprägte Atmosphäre. Diese Versümmelung zeigt Martin Kušej mit Orgien, Inzest, Verwirrung. Und so passt auch der Auftritt der Transvestiten-Sambatruppe zu Elektras finaler Szene, der ebenfalls erst als Transvestit mit Totenblumen auftauchende Orest, die Schockstarre der Weissgewandeten nach der Ermordung des Herrscherpaares Klytämnestra und Aegisth (keine Freude, sie wissen, dass sich die Spirale der Gewalt auch mit Orest als – eh schon psychisch angeschlagenem Herrscher – weiterdrehen wird). Chrysothemis erscheint bei ihrem ersten Auftritt als heilige Mutter Gottes – und tritt mit ihren beiden „Orest!“-Rufen ganz am Ende der Oper auch wieder so ab. Auch sie wird ihr Mutterglück nie finden.

Hervorragend sind die beiden gewichtigeren Männerrollen besetzt: Christof Fischesser gibt einen mit wunderbarer Rundung in der Stimme aufwartenden Orest und Michael Laurenz scheint der Aegisth auf den Leib geschrieben zu sein. Er überzeugt mit perfekter Textverständlichkeit, ist durchschlagskräftig, aber nie schneidend scharf und empfiehlt sich für gewichtigere Partien! Packend gestalten die fünf Mägde den Beginn der Oper, jede von ihnen kann sich mit ihrer individuell gefärbten Stimme profilieren (Judith Schmid, Deniz Uzun, Irène Friedli, Hamida Kristoffersen, Natalia Tanasii), wobei ganz besonders Irène Friedli als dritte und Natlia Tanasii als fünfte Magd nachhaltig in Erinnerung bleiben. Alexander Kiechle als Pfleger des Orest, Iain Milne als junger und Richard Walshe als alter Diener singen und gestalten weit mehr als nur rollendeckend. Des weiteren ergänzen Marion Ammann als Aufseherin, Yuliia Zasimova als Schleppenträgerin und Jusyna Bluj das fantastische Ensemble.

Am Ende sind auch die Zuschauer erschlagen von der bannenden Anspannung über 110 Minuten und am Rande eines Nervenzusammenbruchs, bevor die verdienten Begeisterungsstürme für sämtliche Ausführenden einsetzen.

T+T Fotografie Toni Suter

Kaspar Sannemann 23.7.2019