Coronakastrierte Oper in ARTE-TV am 4.12.
Fehlbesetzung auf hohem Niveau
Eigentlich klingt es wie ein schlechter Scherz: eine Live-Aufführung, bei der Orchester, Chor und Dirigent 2 km vom Opernhaus entfernt agieren und nur durch die Nabelschnur moderner Glasfaserkabel mit den Sängern auf der Bühne verbunden sind. Und das für 50 Leutchen als Publikum. Der beinahe verzweifelte Versuch in diesen Zeiten Oper möglich zu machen. Also technisch klappte wohl alles reibungslos und das allein ist schon bewundernswert.
Natürlich war es etwas steril, die Musik vom Lautsprecher harmonierte so gar nicht mit dem Live-erlebnis der Stimmen, aber was solls. Den Versuch war es wert, und Homoki als Organisator und Regisseur gleichermaßen gefordert sei also herzlich gedankt. Auch mit seiner Inszenierung war ich, zum ersten Mal überhaupt bei ihm, recht zufrieden. Vielleicht rotierte das Bühnenbild als surrealer Irrgarten aus engen Gängen und blinden Türen bestehend, etwas zu aufdringlich, brachte aber auch Bewegung und Spannung.
Dass ich trotzdem nicht so ganz zufrieden war, das lag nicht an dem wie immer fabelhaften Dirigenten Fabio Luisi auch nicht an dem wirklich großartigen Ensemble, vor allem Nicholas Brownlee als klischeeböser Paolo, Christof Fischesser als nicht ganz so verbiesterter Fiesco und der emotional mitreißend aufstrahlenden Jennifer Rowley als Amelia. Nein, meine Enttäuschung kam vom Titelhelden.
Was mag nur in den so bedeutenden Liedersänger Christian Gerhaher gefahren sein, Verdi zu singen! Sein Posa war ja sehr interessant, da passte seine introvertierte, etwas scheue Bühnenpräsenz sogar als Charakteristikum ganz gut. Ebenso und fast noch besser beim Wozzeck. Aber wer mochte diesem Simon Boccanegra als so still und scheu über die Bühne schleichenden, linkisch unscheinbaren Mann den ehemaligen Piraten abnehmen? Und dass man so einen dann auch noch gar zum Dogen wählen würde! Nein, das war eine Fehlbesetzung auf höchstem Niveau. Verschlimmert wurde das alles noch dadurch, dass er auch die großen emotionalen Ausbrüche, bei Verdi stets die mitreißenden Höhepunkte, ausnahmslos schuldig blieb. Alle Ecken und Abgründe der Seele eines Bühnenhelden auszugrübeln ist sicher sehr intelligent und achtbar, aber nicht, wenn sie die Spontaneität der halt auf der Bühne halt nun mal nötigen extrovertierten Präsenz behindert. So schien er die Wiederbegegnung mit seiner verlorenen Tochter höchstens innerlich zu erleben. Da wartete ich vergeblich auf die ergreifenden Töne, die bei anderen, auch weniger begabten Darstellern dieser Rolle, doch ganz selbstverständlich im herrlichsten Verdi Melos dahinströmten.
Natürlich war die durch Corona erzwungene 1,50 m Distanz zur Partnerin hier hinderlich. Doch sie überwand ganz mühelos dieses räumliche Hindernis mit ergreifend herrlichem Gesang. Dabei hätte doch gerade sie allen Grund, sich über diesen emotionslosen Gesellen als Vater weniger zu freuen. In der großen Ansprache im 2. Akt rettete ihn dann nur das durch Corona bedingte Konzept der Regie, das ganze ohne Chor (!) als quasi innere Reflexion des Dogen zu bringen.
So wurde aus der eigentlich mitreißenden großen Volks-Szene ein grüblerisch introvertiertes Philosophieren. Und das in der packendsten Szene der ganzen Oper! Überzeugender war dann die Sterbeszene, hier passte seine Art und brachte viel mehr Tiefe als bei herkömmlicher Gestaltung. Auch wenn es letztendlich eher ein Hinsterben aus der Winterreise war.
Es ist schon verquer: bei vielen Sängern vermisse ich während ihrer ausschließlichen Stimmpräsenz das Hirn beim Singen. Bei Gerhaher ist es genau umgekehrt.
Peter Klier, 8.12. 2020