Zürich: „Sweeney Todd“

1. Akt: Das Stück

Es gibt nur wenige Stücke, welche aus dem kommerziellen Musical-Einheitsbrei (aus den Jahren nach 1970) herausragen. Stephen Sondheims SWEENEY TODD gehört definitiv dazu, ja Sondheims Opus ist geradezu ein Meisterwerk, inhaltlich und formal in seiner Anlehnung an die grosse Oper, an die griechische Tragödie und an das epische Theater eines Bertold Brecht, den erhobenen moralischen Zeigefinger der Gesellschaftskritik jedoch gekonnt und subtil mit Satire, Groteske und einem Quäntchen emotionaler Love Story unterlaufend.

2. Akt: Die Musik und die Interpreten am Opernhaus Zürich

Sondheims Partitur weist die gebotene Qualität und Komplexität auf, um auf die Bühne des von der Öffentlichkeit subventionierten Theaters gehievt zu werden. In ihrer durchkomponierten Grossform, mit den verschiedenen Leitmotiven klug strukturiert, musikalische Einflüsse der ganz grossen Komponisten des Musiktheaters und des Films nicht negierend, sie jedoch überaus geschickt in den ganz eigenen Stil einbettend. Somit ist SWEENEY TODD nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch ein herrlicher (kannibalischer) Leckerbissen, den man umso mehr geniesst, weil im Graben die Philharmonia Zürich mit ungefähr 50 Musiker sitzt und unter der fantastisch präzisen Leitung von David Charles Abell für temporeichen, blendend ausbalancierten und grossartig differenzierten Klang sorgt. Das Orchester ist pausenlos im Einsatz, da auch die wenigen Dialoge mit einem facettenreichen Klangteppich unterlegt sind und Abell schafft den schwierigen Wechsel von Arie, Chorszene zu Parlando mit perfekt bewältigten Überblendungen.

Ein Musical mit Opernsängern zu besetzen, birgt Gefahren (siehe die eher unbefriedigende Aufnahme mit Opernstars wie Carreras und Te Kanawa von Bernsteins WEST SIDE STORY). Nicht so in Zürich bei SWEENEY TODD: Die Opernsänger haben die besonderen Anforderungen des Musical-Stils durchwegs herausragend bewältigt. Bryn Terfel in der Titelrolle gibt dem dämonischen Barbier mit seinem markanten, raumgreifenden Bass grandioses Profil und schafft das Kunststück, dass das Publikum von Beginn weg – trotz seiner bestialischen Taten – auf seiner Seite steht. Er zeigt darstellerisch und stimmlich die seelischen Verletzungen des Mannes, der nach 15jähriger, schuldloser Verbannung in ein Strafgefangenenlager als Rächer zurückkehrt. In seiner Selbstoffenbarung, der sogenannten Epiphany, wächst der Charakter auf die Grösse eines Jago oder Mephistophélès. Mit tränenerstickter Stimme betrauert er seine von ihm ermordete Gattin (There was a barber and his wife, a foolish barber).

Daneben überzeugt er auch mit makabrem Humor, z.B. in den walzerartig angelegten Duetten A little priest und By the sea mit Mrs.Lovett, wo sich die beiden die verschiedenen Geschmacksnuancen der Pasteten aus Menschenfleisch (vom Politiker bis zum Priester) ausmalen oder vom grossbürgerlichen Leben träumen. Angelika Kirchschlager zeichnet ein feinsinnig durchdachtes Porträt dieser Frau, die mit Hilfe von Sweeney, den sie durchtrieben für diesen Zweck manipuliert, endlich den gesellschaftlichen Aufstieg zu etwas Bürgerlichkeit schaffen will – den legitimen pursuit of happiness durch illegitime Mittel vornimmt. Stimmlich vermag sie sich hervorragend dem geforderten Stil anzupassen, wird dabei nie ordinär oder plakativ, sondern setzt ihre facettenreiche Stimme mit Intelligenz und Geschmack ein. Ganz grossartig ist auch Liliana Nikiteanu als alte Bettlerin (Todds Ehefrau, die er erst erkennt, nachdem er ihr die Kehle durchgeschnitten hat), die mit ihrem repetitiven Betteln um ein Almosen (Alms, Alms) das Stück leitmotivartig durchzieht. Mit bestechender Agilität schlängelt sie sich jeweils aus der Gosse empor.

Prägnant singen und agieren die „Opfer“ auf dem raffiniert konstruierten Stuhl des dämonischen Barbiers: Brindley Sherratt als schmieriger Judge Turpin, der durch seine sexuellen Begierden die ganze Story eigentlich verursacht hat, glänzt in seinem Duett von donizettischen Ausmassen mit Todd (Pretty women), Barry Banks als erpresserischer und ebenso schmieriger Pirelli, der sich nur als italienischer Barbier ausgibt und Pisse als Haarwuchsmittel verkauft, singt hervorragend als Persiflage auf einen Rossini-Belcanto-Tenor, Iain Milne ist ein wunderbar traditionelle Lieder intonierender und dabei devot seinem Herrn dienender The Beadle. Bleiben die Überlebenden: Geradezu ereignishaft ist Spencer Lang als geistig zurückgebliebener Toby (Tobias Ragg). Mit Agilität (auch körperlicher, nämlich auf einer schwankenden Leiter singend) bewältigt er seine Auftrittsszene (Pirelli’s Miracle Elixir), zum Weinen schön seine Liebeserklärung an Mrs. Lovett (Not while I’m around – Nothing’s gonna hurt you). Überleben darf auch das Liebespaar, Anthony (Elliott Madore, dem etwas mehr Emphase durchaus angestanden hätte) und die bezaubernde Mélissa Petit als Johanna. Wunderschön luftig gestaltet sie ihre Vogelarie (Green Finch and Linnet Bird). Spannungsgeladen und mit klanglicher Wucht intoniert der Chor der Oper Zürich (einstudiert von Janko Kastelic) seine kommentierende und die Moritat bestätigende Rolle. Unter die Haut geht sein Auftritt in der Szene im Madhouse, der geradezu apokalyptische Ausmasse annnimmt.

3.Akt: Die Inszenierung

Andreas Homoki ist eine eindrückliche, sorgsam ausbalancierte Regie gelungen – weder zu grotesk noch zu moralapostelhaft, und in keinem Moment oberflächlich. Die verschiedenen Charaktere werden von ihm mit differenziert angelegter Personenführung zum Leben erweckt. Den Verlockungen der lediglich unterhaltsamen Show oder des Splatter-Theaters ist man vom Inszenierungsteam her in keinem Moment erlegen. Für einmal werde ich auch nicht über eine leere Bühne mosern. Michael Levines Konstruktion mit dem die Bühne strukturierenden schmalen Steg, den beiden grau-schwarzen hoch- und herunterfahrenden Kulissen, auf denen sich immer mehr schwarze Wolken dräuen und dem Varieté-Lämpchen-Rahmen werden von Franck Evin in stimmungsvolles Licht getaucht. Die Bühne ermöglicht so sowohl die geforderten schnellen Szenenwechsel als auch die gesellschaftskritische Einteilung in „Oben“ und „Unten“. Eine wahre Augenweide sind die fantastisch gearbeiteten Kostüme von Annemarie Woods, Mode aus dem frühen 19. Jahrhundert, stilistisch leicht überzeichnet und alle Stoffe mit angegrauter Patina gedeckt, so dass man die Muster und Farben gerade noch knapp erkennt. Erst wenn Mrs. Lovett den gesellschaftlichen Aufstieg (vermeintlich) geschafft hat, darf sie mehr Farbe zeigen und sich auch ein pinkfarbenes Sofa leisten – und Farben und Streifenmuster halten natürlich in der kostümmässig ganz wunderbar gestalteten Traumsequenz By the sea Einzug.

Epilog: EINE ÜBERRAGENDE PRODUKTION!

Kaspar Sannemann11.12.2018

copyright: Monika Rittershaus

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