Zürich: „Die Gezeichneten“

Vorstellung am 23.09.2018

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VIDEO aus der Einführung

Vom ersten Takt der Ouvertüre an wird man wie auf einem psychedelischen Trip hineingezogen in die Klangmagie von Schrekers DIE GEZEICHNETEN, dieser einst so erfolgreichen, skandalumwitterten Oper, die viel zu lange im Dornröschenschlaf lag und nun allmählich wieder den Weg zurück auf die Bühnen findet. Die Üppigkeit der Orchestrierung, die Eindringlichkeit des sehrenden, erotisch aufgeladenen Hauptmotivs, das im Verlauf des Abends stetig wiederkehrt, dessen man aber nie überdrüssig wird, so genial ist es geschrieben, verleihen der Partitur eine ungemein starke Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Erst recht nicht, wenn ein Dirigent wie Vladimir Jurowski und ein Orchester von der Qualität der Philharmonia Zürich sich Schrekers magischer Partitur annehmen. Es wird laut, ja, aber nie zu laut, denn erstaunlicherweise schaffen es Jurowski und die Philharmonia Zürich selbst innerhalb der phonstarken Klangwellen mit einer ausserordentlichen Transparenz aufzuwarten, einer Transparenz, in der man stets die Motive und die einzelnen Instrumentenfarben und Kantilenen heraushört, das wird nie matschig, nie protzend und dank der zügigen Tempi schon gar nicht schwülstig. Es ist ein Strudel, welcher beinahe irre macht, aber auf die angenehmste Art, ein wohliger Schauer, und ein nicht enden wollender Rausch erfassen einen.

Der Regisseur Barrie Kosky liess im Vorfeld verlauten, dass man diese Musik ja nicht szenisch verdoppeln dürfe durch eine üppige Inszenierung, da man sonst nur gegen die überwältigende Kraft der Partitur verlieren könne. Da mag vielleicht was dran sein, aber von der Ausstattung her fast gar nichts zu machen ist eben auch keine Alternative. So haben wir es einmal mehr in Zürich mit einem weiss-grauen, schmucklosen Einheitsraum zu tun (Bühnenbild: Klaus Bruns) und mit Männern in Business Anzügen, deren Farbpalette von mausgrau bis schwarz reicht. Carlotta darf immerhin in der Lustgrotte des Elysiums (die gibt es natürlich auf der Zürcher Bühne nicht, der Raum bleibt schmuck- und phantasielos) ein sehr schönes flaschengrünes Abendkleid tragen (Kostüme: Rufus Didwiszus). Im ersten Akt ist der Raum mit unzähligen antiken Marmorstatuen bestückt, welche das klassische Schönheitsideal des Mannes darstellen und dem Kunstliebhaber Alviano täglich vor Augen führen, wie unvollkommen er in seiner körperlichen Hässlichkeit ist. Regisseur Barrie Kosky hat sich in seiner Auseinandersetzung ganz auf die Seelenzustände der beiden Hauptfiguren Alviano und Carlotta fixiert, die eigentliche Handlung (nicht einmal die sexuelle )findet nicht statt, der Abend ist eine Schilderung von psychischen Befindlichkeiten, Hysterien, Obsessionen, von Seelenmalereien, von der Dekomposition des Ichs.

Ein verrätselter Tanz in den psychischen Verfall. Das kommt mal exaltiert rüber wie in einer Irrenanstalt, dann wird wieder ganz intim zurückhaltend agiert mit kleinsten Gesten und verhaltener Mimik, alles sorgfältig durchdacht und freudianisch fundiert – und doch verliert man mangels der Umsetzung der von Schreker vorgezeichneten Rahmenhandlung bald einmal das Interesse am Schicksal der Figuren. Eine bleierne Langeweile legt sich über die Szene. Das hat Schreker nicht verdient. Kosky und Jurowski scheinen übereingekommen zu sein, mehr als 20 Minuten Musik und einige Nebenfiguren zu streichen, weil sie ihnen für die seelischen Porträts der Protagonisten nicht wesentlich erschienen. Das mag sein, doch fehlen gerade den mit dem Stoff wenig vertrauten ZuschauerInnen dadurch wichtige Impulse für das Verständnis der Handlungsmotivation. Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Kosky, der sonst für seine prallen, reichhaltig ausgestatteten Inszenierungen an seinem eigenen Haus, der Komischen Oper Berlin, bekannt ist, bei seinen Arbeiten in Zürich sehr reduziert und beinahe aseptisch, jedenfalls ganz ins Innere der Protagonisten gewandt, inszeniert (Macbeth, La fanciulla del West). Doch der Begeisterung des Publikums für diese Arbeit des Inszenierungsteams tat dies keinen Abbruch. Sie wurden am Ende ebenso enthusiastisch gefeiert wie der Dirigent, das Orchester und natürlich die Sängerinnen und Sänger.

Diese hatten nämlich gerade in dieser auf die psychischen Prozesse ausgerichteten Produktion Enormes zu leisten. Die beiden Hauptpartien sind schon musikalisch extrem anforderungsreich, gerade auch im Hinblick auf Umfang und Tessitur. John Daszak als Alviano (Kosky liess ihn als handamputierten Mann auftreten) war grandios. Seine kraftvolle Stimme vermochte jeglicher Orchesterbrandung zu widerstehen, erhob sich mit schneidender Schärfe und klarer Diktion über die Wogen, er schonte sich keinen Moment (man fürchtet um die längerfristige Gesundheit seiner Stimme), obwohl er – ausser zu Beginn des zweiten Aktes – auf der Bühne dauerpräsent sein musste. Selbstzerstörerisch driftete er langsam in den Wahnsinn ab, wurde mit Dreck (Fäkalien?) und Blut beschmiert, stand dann allein auf dem drehbaren Sockel, das Gesicht zur Fratze verzerrt, stammelte nur noch einzelne Wörter – der pure Horror. Das Opfer einer ebenso irren wie mitleidlosen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die nur an ihr eigenes kurzfristiges Glück dachte. Natürlich ist der Alviano überhaupt nicht schuldlos an seinem Niedergang, auch er ist keine positive Identifikationsfigur in Schrekers Oper, da gibt’s nämlich keine. Auch nicht Carlotta, die herzkranke Künstlerin – hier keine Malerin, sondern eine Bildhauerin, die gerne an der Töpferscheibe arbeitet.

So malt sie nicht Alvianos Hände, sondern klebt ihm Hände aus Ton an seine Armstumpen. Zusammen mit den Projektionen huscht ein Hauch von Murnaus NOSFERATU über die Szene. Carlotta gibt ihm damit für einen kurzen Moment den Glauben an sich selbst zurück, den Glauben, trotz allem ein vollkommener Mann zu sein. Am Ende, wenn die Nebel des Grauens Einzug im (sterilen) Elysium halten und Alviano in eine andere Welt hinüberschreitet, sieht man Carlotta weit hinten erneut an der Töpferscheibe sitzen. Auch Catherine Naglestad schonte sich weder stimmlich noch darstellerisch, füllte die zwiespältige Rolle mit starker Bühnenpräsenz. Stimmen sind Geschmackssache, für mein Empfinden klang sie an den expressiven Stellen zu flackrig, zu hysterisch, hatte aber im mezzoforte Bereich ausgesprochen einnehmende und warme Töne bereit. Die von der Gesangslinie her am angenehmsten das Ohr treffende Partie ist die des Womanizers Graf Vitelozza Tamare, welchen Thomas Johannes Mayer mit seinem sauber und wunderschön phrasierenden Bariton mit markanter Autorität und gehörigem Selbstbewusstsein sang. Ebenso toll war die Phrasierung und Artikulation von Albert Pesendorfer (welch herrliche Bassstimme) als Carlottas Vater, der Podestà von Genua. Hochklassig besetzt war der Herzog Adorno mit Christopher Purves.

Seine Auseinandersetzung mit Tamare zu Beginn des zweiten Aktes ein sängerischer Höhepunkt des Abends. Ganz fantastisch auch die verbrecherischen, richtiggehend bösen und fiesen Nobili Genuas, welche den Reichtum Alvianos und seine edle Gesinnung für ihre Schandtaten missbrauchen: Paul Curievici, Iain Milne, Olver Widmer, Cheyne Davidson, Ildo Song und Ruben Drole hätte man am liebsten eigenhändig den Hals umgedreht, derart intensiv füllten sie ihre Rollen der Unsympathen aus. Sen Guo und Thobela Ntshanyana mussten als Jüngling und Mädchen halb versteckt vom Bühnenrand her singen, man wollte ja keine Nebenfiguren auf dem Schauplatz haben … . Die ganze Handlung um die Entführung Ginevra Scottis fiel den Strichen zum Opfer, es gab also auch keinen Pietro, keine Martuccia, nichts was die Festnahme Alvianos erklärt hätte.

Dass eine Inszenierung dieser Oper auch praktisch ohne Striche möglich ist, wurde in der letzten Spielzeit ausgerechnet an der Komischen Oper Berlin gezeigt, wo Kosky ja der Hausherr ist. Dort liess er Calixto Bieito eine hoch spannende Geschichte um Pädophilie erzählen, die zwar zutiefst verstörte, aber extrem sinnig war. Die St.Galler Inszenierung von Antony McDonald (ebenfalls in der letzten Saison) wies zwar ebenfalls Striche auf, vermochte aber szenisch mit ihren Bezügen zu Hollywood und zu frauenfeindlichen Burschenschaften weit mehr zu überzeugen, als diese klinische Innenschau in Zürich.

Für mich persönlich das Mass aller Dinge punkto DIE GEZEICHNETEN war Kušejs Inszenierung in Stuttgart, die wurde dem Werk vollkommen gerecht.

Nachdem DIE GEZEICHNETEN bereits 1992 in einer stark amputierten Form (Eliahu Inbal/Jonathan Miller) hier am Opernhaus zu erleben gewesen waren, müssen die Zürcher Schreker Freunde weiterhin zu anderen Spielstätten pilgern. Schade, Chance auf Wiedergutmachung des Fehlers von 1992 vertan.

Kaspar Sannemann 25.9.2018

Bilder (c) Monika Rittershaus