Er ist die stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik, hat der Komponistenkollege Giacomo Puccini über Korngold gesagt. Ulrich Schreiber: Korngold verfehle den Höchststandard der Zeit, setze eine Überinstrumentation ein, ohne dem Facettenreichtum des Stoffes gerecht zu werden, verfüge nicht über die Melodiosität und szenographische Genauigkeit Puccinis, beherrsche nicht die orchestrale Nervenkontrapunktik und diatonische Transparenz eines Richard Strauss oder die klangsensualische Üppigkeit von Schreker. Wie dem auch sei, Korngolds Oper war ein gigantischer Erfolg, sie gehörte in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu den Top-Shots, wurde nach der Doppeluraufführung in Hamburg und in Köln bis zur Machtergreifung der Nazis in über 80 Opernhäusern auf den Spielplan gesetzt (auch in Zürich bereits 1922), und nach dem überwältigenden Erfolg dieser Neuproduktion gestern Abend beim oftmals recht zurückhaltenden Zürcher Premierenpublikum rückt Korngolds Meisterwerk (und eine meiner Lieblingsopern) hoffentlich wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit.

Lorenzo Viotti, der nach eigenen Angaben in Korngolds Partitur „den Soundtrack zu einem Horrorfilm“ hört, legt zusammen mit der exzellent aufspielenden Philharmonia Zürich (noch heisst das Hausorchester so …) eine fesselnde, brutal aufpeitschende, dann wieder melodramatisch in sich zusammenfallende Lesart vor. Er bleibt dem spätromantischen Überschwang nichts an Klangmagie und an gewissen Stellen auch etwas übertriebene Klanggewalt schuldig, fokussiert den Blick aber stets auch auf die dissonante Modernität, die vertrackte Rhythmik und die brachialen Orchesterschläge, nimmt sich Zeit für verinnerlichte, verträumt gewobene Klangteppiche. Das ist von aufwühlender Lebhaftigkeit geprägt, die von Beginn weg in ihren Bann schlägt und uns in die morbide Geschichte hineinzieht.
Die Gesangspartien dieses Werks sind bekanntlich überaus anspruchsvoll – und in Zürich hat man einmal mehr ein sehr glückliches Händchen bei der Besetzung der drei wichtigsten Rollen gehabt: Eric Cutler singt ein irre gutes Rollendebüt als Paul. Seine angenehm gefärbte Tenorstimme meistert die unangenehm hohe Tessitura mit Raffinesse der Tongebung und fantastisch disponierter Einteilung der Kräfte, so dass er auch für das fordernde Schlussbild noch über die notwendige Kraft verfügen kann. Viotti nimmt die ansonsten manchmal wild hochfahrende Dynamik genau an den Stellen etwas zurück, wo die Sänger dies brauchen, um nicht in unschönes Forcieren zu geraten. So kann Eric Cutler viele Passagen in einem für die Stimme bequemen Mezzoforte gestalten. Sein Spiel ist von eindrücklicher Kraft. ob als verlorener, verwirrter Voyeur mit Wollmütze, als Machomann oder als sich im religiösen Wahn bei der Heilig-Blut-Prozession in einen Priester verkleidender Fanatiker. Cutler hat sich bereits mit diesem Debüt als bedeutender Interpret des Paul empfohlen.
In der Doppelrolle als tote Marie (stimmlich aus dem Off, dargestellt wurde die tote Geliebte in den Erscheinungen für Paul von Irina Das) und sehr lebendige Marietta brilliert Vida Miknevičiūtė. Bereits während des von Regisseur Dmitri Tcherniakov eingefügten Prologs darf sie aus dem Off eine kurze Passage aus einem der Hits der Oper a capella intonieren: „Glück das mir verblieb“. Vida Miknevičiūtė verfügt über eine wunderbare, direkt ansprechende Stimme, besitzt einen leicht metallischen Glanz, der sehr gut zu der aufmüpfigen und bohrend nachfragenden Marietta passt, kann aber, wo geboten, durchaus mit schön geführter lyrischer Sensibilität aufwarten. Mit eindringlicher Darstellungskunst schlüpft sie in die drei Männertraum-Frauenrollen, welche ihr der Regisseur Tcherniakov zugedacht hat: Das punkige Mädchen mit blau gefärbten Haaren, die sexy und selbstbewusst flirtende (reifere) Rothaarige im zweiten Bild und die moderne junge Frau mit modischer Kurzhaarfrisur im Schlussbild. Dem von den Symbolisten oft beschworenen Fetisch des weiblichen Haares wird also Genüge getan. Als Frank und als Pierrot Fritz vermag Björn Bürger mit der goldenen Wärme seines schlank geführten Baritons begeistern. Pierrots Walzer-Arie „Mein Sehnen, mein Wähnen“ (der zweite Wunschkonzert-Hit aus dieser Oper) singt Björn Bürger (obwohl er auf Inlineskater auftreten muss) zum Dahinschmelzen schön, das ist vom Allerfeinsten punkto Intonation, Phrasierung und stimmlicher Rundung! Für die Rolle der Brigitta hat man keine geringere als die durch hochdramatische Rollen (Elektra, Brünnhilde, Salome, Lady Macbeth von Msensk) weltweit gefeierte Sopranistin Evelyn Herlitzius engagiert. Auch hier in dieser relativ kleinen Rolle besticht Herlitzius mit ihrer großartigen Bühnenpräsenz. Zu Beginn hat sie eine der schönsten Eingebungen Korngolds in ihrem Arioso zu singen: „Und wo Liebe, dort dient eine arme Frau zufrieden“. Das hätte bestimmt von einer runder und weniger angestrengt intonierenden, lyrischen Mezzosopranistin auch schön geklungen. Die komödiantischen Begleiter Mariettas Juliette (Rebecca Olvera), Lucienne (Daria Proszek), Gaston (Raúl Gutiérrez) und Victorin (Nathan Haller) sowie Graf Albert (Álvaro Diana Sanchez) begeistern mit ihrer stimmlichen Agilität und ihrer ansteckenden Fröhlichkeit. Ihre sportlichen, artistischen Fähigkeiten auf Inlineskatern waren hingegen noch nicht ganz zirkusreif. Dieser (und einige andere) Einfälle des Regisseurs waren eher etwas belanglos, um nicht zu sagen langweilig.
Wie so viele Regisseure vor ihm, traut auch Dmitri Tcherniakov dem von Korngold Vater und Sohn vorgesehenen Happyend durch die kathartische Wirkung des Traums nicht. Er glaubt auch nicht, dass Marie eines natürlichen Todes gestorben ist. Er sieht Paul als einen toxischen Mann, gefangen in misogynem Gedankengut. So stellt er der Oper einen kurzen Prolog voran: Bei offener Bühne hört man die von Daniel Hajdu gelesene Erzählung DIE SANFTE von Dostojewski, in welcher ein 41-jähriger Mann den Mord an seiner sechzehnjährigen Frau/Freundin rechtfertigt, weil sie sich ihm nicht untergeordnet habe. Auf einem Laufschriftband wird mitgeteilt, dass man eine tote Frau gefunden habe, die vermutlich Selbstmord begangen hätte. (Es ist aber anzunehmen, dass sie von Paul aus dem Fenster geschubst worden war.) Dann erst setzt die Musik ein. Tcherniakov, der ja auch stets sein eigener Bühnenbildner ist, hat eine eiskalte Bühne bauen lassen, eine leicht erhöht über der Drehbühne schwebende Wohnung einer Beletage in einem nüchternen Bau. Die Zimmerfluchten sind schmucklos, die Handlung findet vornehmlich hinter den Fenstern und auf dem schmalen Balkon statt, was uns als Zuschauer ziemlich stark von der Handlung distanziert, keine Nähe zu den Charakteren schafft (es empfiehlt sich, keine seitlichen Plätze auf den Rängen zu wählen, da man sonst – wie mir Bekannt erzählt haben – noch weniger mitbekommt). Im Parkett war es akustisch okay, oben schien das alles problematischer gewirkt zu haben. Es ist tatsächlich alles tot in diesem Bühnenbild. Keine Spur von Natur ist zu sehen, alles ist in Grau, Schwarz und Weiss gehalten.

Der rote Schal und das rote Kleid der toten Marie und das knallrote Haar Mariettas im zweiten Akt stellen die einzigen Farbkleckse in dieser eingefrorenen Szenerie dar. Tcherniakov bietet uns einen Thriller in der Art des Film noir – aber irgendwie fehlt es an packenden theatralischen oder filmischen Effekten. Auch die Heilig-Blut-Prozession kommt trotz der schönen Stimmen des Zusatzchors, der SoprAlti und des Kinderchors aus dem Off relativ blutleer daher, es werden keine Neurosen, Hysterien, verquere erotische Ausschweifungen auf der Bühne thematisiert (wie z.B. in Bechtolfs genialer Inszenierung in Zürich von 2003). Am Ende bringt Paul Marietta um (frauenfeindlicher Serientäter, „Nur tot ist die Frau eine ideale Geliebte“, wie die Literaturwissenschafterin Elisbeth Bronfen in ihrem im Programmheft abgedruckten Gespräch mit der Dramaturgin Beate Breidenbach sagt). Das Laufband sagt uns, dass sich eine Gewalttat ereignet habe, ein Mann sich in seiner Wohnung verbarrikadiere und die Polizei fürchte, dass eine Frau tot sei. Hinter der Drehbühne schimmert kurz oranges Licht, das in Blassrosa und schliesslich in Weiss übergeht, die Erscheinung der toten Marie und Frank drehen sinnlose Runden auf den Skates, Brigitta schreitet ebenfalls im Rund, Paul sitzt unbeweglich am Fenster. Tcherniakov befand ja die Romanvorlage Rodenbachs (Bruges-la-morte) als uninteressant (das Buch war aber Ende des 19. Jahrhunderts ein viel beachteter Bestseller). Ihn interessiert nur eine von ihm auf Paul projizierte Machtfantasie und ein toxisches Männerbild des Protagonisten. Alle Elemente der Fin-de-siècle-Literatur, die Symbole des Dekadenten, der Nekrophilie, den Tosdeshauch, der aus den Kanälen der toten Stadt Brügge strömenden Morbidität (die einst blühende Handelsstadt hatte ihren Hafen durch Versandung verloren, versank in Tristesse) wurden in dieser Inszenierung von der Bühne verbannt. Der Roman Rodenbachs ist jedoch gleichzusetzen mit Werken Hofmannsthals und Manns (Venedig), oder Prousts (Versailles) und Maeterlincks, die symbolistische Romane in den den Hauch des Todes atmenden Städten, Burgen und Schlössern spielen ließen. Die beiden Korngolds haben zwar den Roman Rodenbachs für ihr Opernlibretto auch abgeändert, indem sie ein kathartisches Ende wählten, was aber nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs durchaus seine Berechtigung hatte: Den Horror des Untergangs hinter sich lassen und in eine neue Zeit aufbrechen war das Motto für die Zwanzigerjahre.
Auch wenn mich die Inszenierung nicht so ganz überzeugen konnte, ist der Besuch nur schon wegen der alle Sinne überwältigenden musikalischen Umsetzung überaus lohnend.
Kaspar Sannemann, 23. März 2025
Die Tote Stadt
Erich Wolfgang Korngold
Oper Zürich
21. April 2025
Inszenierung: Dmitri Tcherniakov
Musikalische Leitung: Lorenzo Viotti
Philharmonia Zürich