Was für einen hoch spannenden, aufregenden Opernabend durfte man gestern Abend anlässlich der Premiere von Alfred Schnittkes/Viktor Jerofejews genialer Oper Leben mit einem Idioten am Opernhaus Zürich erleben. Ein Triumph des (relativ) zeitgenössischen Musiktheaters, in einer virtuosen Inszenierung und musikalisch vom Allerfeinsten. Für Regie, Bühnenbild und Kostüme waren Kirill Serebrennikov und sein Team verantwortlich. Man erinnert sich: Vor einigen Jahren hätte er in Zürich Cosi inszenieren sollen, stand jedoch in Moskau (unter falschen Anschuldigungen) unter Hausarrest, erarbeitete die Inszenierung trotzdem und mittels komplizierter Kommunikationsverfahren wurde die Zürcher Cosi von Evgeny Kulagin in Szene gesetzt. Kulagin war nun beim Idioten wiederum von der Partie und zeichnete für die Choreografie verantwortlich.
Serebrennikov setzte zu Recht nicht auf eine konkrete Verortung dieser zynischen Parodie (auf den Wahnsinn des sowjetischen Alltags) von Viktor Jerofejew, sondern ließ das absurde Geschehen in einem klinisch weißen Raum ablaufen, in welchem Blut und andere Körperflüssigkeiten effektvoll für Kontraste sorgten. Viktor Jerofejew (der 77jährige Autor, der in privilegierten sowjetischen Diplomatenkreisen aufgewachsen war, sich aber bald mit seinen Schriften beim Politbüro unbeliebt gemacht hatte und dessen Texte erst unter Gorbatschow wieder veröffentlicht wurden) war persönlich gestern Abend anwesend und nahm den Jubel des Publikums verschmitzt entgegen.
Für Jerofejew ist (das sagt er in seinem lesenswerten Interview im Programmheft) die Geschichte nicht gebunden an das Leben in der Sowjetunion, die Menschen würden heute sowieso viele der textlichen Anspielungen nicht mehr verstehen. Vielmehr besitze der Text einen absurden Humor, es gehe um die Unvollständigkeit des Menschen, um existentielle Fragen mit politischen Elementen und vor allem mit Exzessen. Genau so hat Serebrennikov das auf der Bühne umgesetzt. Da kann viel gelacht werden, ab und an kriegt man auch Gänsehaut und empfindet vielleicht Ekel, und oft beschleicht einen ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Absurdität des (auch ehelichen) Alltags. Jedenfalls ist es keine moralisierende Parabel über Lenin, Stalin, Putin oder andere Diktatoren geworden, denn wie Serebrennikov richtig sagt: „Eine Oper hat Putin ganz bestimmt nicht verdient!“
Serebrennikov spaltet die Figur des Idioten, den die Hauptperson Ich in seinem Haushalt als Strafe für ein nicht genanntes Verbrechen aufnehmen muss, in zwei Figuren auf: Den immerzu „äch“ – über drei Oktaven – singenden Idioten und einen jungen, blonden Adonis mit perfektem Körper, meistens splitternackt, der im Haushalt nicht nur den Inhalt des Kühlschranks überall herumwirft, sondern auch seinen Kot – und sein Sperma freigiebig an Ich und seine Frau verteilt. Das alles ist dermaßen versiert und (man glaubt es kaum) geschmackvoll und lustig inszeniert, dass es einen in keinem Moment anwidert. Der Chor hat eine ganz wichtige Rolle: Er ist hinten auf drei hohen Stufen platziert, weiß gekleidet wie Pfleger in einer psychiatrischen Klinik, nimmt sowohl eine erzählende als auch eine kommentierende Rolle ein, wie in einer griechischen Tragödie, wird je nach Situation auf der Vorderbühne als Chor der Freunde, Chor der Idioten, Chor der Homosexuellen oder einfach nur als Chor bezeichnet. Die Chorpartien sind dermaßen komplex, dass sie gleich von drei Chorleitern einstudiert und betreut werden mussten.
Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger haben grossartige Arbeit geleistet, der Chor der Oper Zürich singt mit farbenreicher Intensität und packendem Klang! Die drei grossen Gesangspartien haben es in sich: Die Titelfigur des (bis auf das von ihm berührend intonierte Lied von der Birke) nur „äch“ in allen Tonlagen singenden Idioten wird von Matthew Newlin mit geradezu unheimlicher (aber verführerischer) Bühnenpräsenz dargestellt. Ist dieser Idiot der innere Idiot im Kopf von Ich, eine Art Advokat des Teufels, der Ich „unreine“ oder unterdrückte Gedanken und Bedürfnisse einflüstert? Der Ich von Bo Skovhus (der große dänische Bariton debütiert mit dieser Partie endlich in Zürich) ist absolute Spitze. Bo Skovhus wirft sich mit immenser darstellerischer Kunst in diese anspruchsvolle, während hundert Minuten auf der Bühne dauerpräsente Partie, gestaltet mit herausragender Diktion (es wird glücklicherweise deutsch gesungen) und meistert die gesanglichen Klippen der bis ins Falsett reichenden Tessitura mit überragender Souveränität.
Was für eine bravouröse Leistung! Genauso virtuos singt Susanne Elmark als Frau: Spitze, scharfe Töne in höchster Lage und übermäßige Intervallsprünge, oftmals am Rande der Hysterie, werden von ihr mit stupender Selbstverständlichkeit intoniert. Doch in keinem Moment klingt ihre Stimme unangenehm schrill, da ist immer eine gewisse Rundung vorhanden. Auch sie wirft sich mit darstellerischer Verve in die Partie dieser komplexen Persönlichkeit, die gerne Proust liest. Marcel Proust tritt denn auch persönlich in der Handlung persönlich auf: Birger Radde gibt ihn wunderbar dandyhaft. Großen Eindruck macht auch Magnus Piontek als mit wunderbarer musikalischer Agilität gestaltender Wärter. Die stumme Rolle des Idiotendoubles wird von Campbell Caspary akrobatisch ausgeführt. Ohne jegliche Scham, aber mit einer selbstbewussten Natürlichkeit, präsentiert er seinen nackten, wohl proportionierten, athletischen Körper, nimmt Posen berühmter antiker Skulpturen (z.B. den Diskuswerfer von Myron) ein, turnt auf dem Küchentisch, verheddert sich in die Skelette der Küchenstühle, missbraucht sie als Klo und duscht sich auf offener Bühne die auf seinem Körper verschmierten Flüssigkeiten ab.
Zum grandiosen Gesamterlebnis tragen die Philharmonia Zürich unter der wunderbar gestaltenden und Balance haltenden Leitung von Jonathan Stockhammer entscheidend bei. Stockhammer und die Musiker*innen im Graben (und teilweise in den Parkettlogen) evozieren einen sensationellen Sog in dieser Musik. Wenn man sich das „nur“ auf YouTube anhört, ist man lange nicht so hingerissen wie live im Zuschauersaal des Opernhauses. So entwickeln die Philharmonia Zürich und Jonathan Stockhammer ein Klangbad, in das man gerne eintaucht. Gerade die Polystilistik von Schnittkes Kompositionsweise hält für alle etwas bereit. Manchmal schmeichelt die Musik dem Ohr, dann wieder wühlt sie auf, führt mit schmerzhaften klanglichen Reibungen zu Gänsehaut – und manchmal ist es einfach nur verführerisch schön, so im Tango, dessen Melodie Ich zu Beginn (noch vor dem an die Matthäuspassion angelehnten Eröffnungschor) am Piano klimpert. ICH als Kind kommt dann als Geige spielendes „Wunderkind“ beim berühmten Tango auf die Bühne: Der Knabe Mykola Pososhko spielt die Violine mit einnehmendem, warmem Ton, schlicht grandios!
Am Ende sitzt Ich alleine auf einem Stuhl auf der Vorderbühne, singt falsettierend das Volkslied „Auf dem Feld stand eine Birke“ während der Chor (in dieser Zürcher Fassung) den Summchor „Herbst“ aus Schnittkes Filmmusik zu „Agonie“ intoniert. Schauerlich schön!
Wie sang doch bereits Wolfgang Petry in den 80er Jahren? „So ein Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle? Eiskalt lässt du meine Seele erfrier’n. Das ist Wahnsinn, du spielst mit meinen Gefühlen.„
Auf den „Wahnsinn“ in dieser Produktion von Schnittkes Meisterwerk lässt man sich gerne ein. Zeitgenössische Opern sind bekanntlich oftmals „Kassengift“. Gestern Abend war die Premiere schon einmal sehr gut ausgelastet und das Ensemble inklusive Inszenierungsteam (!) wurde frenetisch gefeiert; es ist zu hoffen, dass die Oper zu einem „Renner“ wird, wie seinerzeit (2013) die ebenfalls überragende Produktion von Zimmermanns Soldaten.
Kaspar Sannemann, 3. Dezember 2024
Leben mit einem Idioten
Alfred Schnittke
Opernhaus Zürich
1. Dezember2024
Regie, Bühnenbild und Kostüme: Kirill Serebrennikov
Leitung: Jonathan Stockhammer
Philharmonia Zürich