Essen: Ein Traumabend mit Wagner & Mahler

Mariinsky Orchestra & Valery Gergiev

Anja Kampe, Mikhail Vekua, Mikhail Petrenko

Richard Wagner
Die Walküre

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 6 a-Moll „Tragische“

Liebe Opernfreunde, unterbreiten Sie einmal einem deutschen Orchester den Vorschlag Richard Wagners kompletten Ersten Akt der WALKÜRE im Konzert zu spielen – immerhin gut 75 Minuten. Weltstars als Solisten vorausgesetzt, wie jetzt in Essen, kämen dann noch 25 Minuten frenetischer Beifall dazu, denn Wagnerianer sind – wenn musikalisch euphorisiert – schnell außer Rand und Band und bravieren nicht enden wollend. Man wird begeistert sein und sich freuen zeitig wieder ins traute Heim zu kommen…

Danach kommen Sie zur eigentlichen Sache, nämlich Mahlers 6. mit rund 85 Minuten Spielzeit – ich nehme mal das mittlere Tempo zwischen Abbado (90 Min.) und Boulez (80 Min.). Auch hier werden Sie als Disponent ebenfalls Begeisterung bei jedem guten deutschen Orchester vorfinden, denn das ist ebenso kurzweilig abendfüllend und eben nicht der längste Mahler.

Und mit dem Satz "Das beides spielen wir aber demnächst in der Essener Philharmonie am 16. September 2018 an einem Abend" würden Sie sofort zum meistgehassten Menschen dieses fiktiven deutschen Orchesters erklärt. Wetten dass? Der Orchestervorstand käme sofort mit tariflichen Dienst-Regelungen, welche so etwas nicht zuließen. Es sei denn, das würde als quasi zwei Dienste bezahlt; also pekuniäre bekäme man für diesen Abend genau soviel, als wenn man zwei separate Konzerte musiziert hätte. Außerdem würden sicherlich Bedenken geltend gemacht wegen der ungeheuren Schwierigkeit beider Stücke, die den meisten Musikern kaum Atempausen böten…

Schon von daher hätte die Philharmonie eigentlich ausverkauft sein müssen, denn wann bekommt man noch einmal so ein begnadetes Programm geboten. Valery Gergiev, den ich persönlich neben Mariss Janson, für den aktuell besten Dirigenten unseres Erdenrunds halte, dabei sind mir seine persönlichen Wert- und Politikvorstellungen wurscht, immerhin hat er sich ja nicht an junge Knäbleins rangemacht. Hinzu kommt noch eines der weltbesten Orchester, die ich sofort unter den WORLDs TOP TEN platzierend würde; gäbe es eine Hitparade. So hätte ich gedacht, daß es doch bei Preisen von maximal 80 Euro (Dank an die Sparkassen Stiftung) zu einem Kartenansturm sondergleichen geführt hätte. Leider nein… Freunde, in Baden Baden zahlt ihr das vierfache!

Leider war die Philharmonie nur zu zwei Dritteln verkauft. Unfassbar, denn was an diesem Abend geboten wurde – Gratulation und Glückwunsch wer dabei war – ist nur mit einem Wort, nämlich "Weltklasse", zu bewerten. Besser geht es einfach nicht mehr!

Und so war es kein Wunder, daß schon Wagners perfekter WALKÜREN-Akt mit nicht enden wollenden Bravi goutiert wurde, als wären wir im Bayreuth der 80er Jahre. Bei MAHLER 6 musste der große Gergiev nach zehnmaligem Hervorrufen weit nach 22 h (Konzertbeginn 19 h) freundlich abwinken, sonst hätten wir wahrscheinlich noch bis Mitternacht dort gestanden und braviert.

Gergiev musiziert einen modernen lebendigen Wagner, ohne dabei die große Linie zu verlieren oder im pseudo-orgastischem Zelebrieren des Schönklangs zu versinken. Jeder Wagner Kenner weiß, wen ich meine 😉 Dabei setzt der Maestro durchaus auch Akzente, wie ein Georg Solti, gerät aber nie allzu sehr ins schwärmerische Abseits der Wagner-Droge. Goldenes Blech, perfekte Holzbläser, traumhaftes Streichermeer. Ein Orchester, welches so stürmisch freudig, wie lyrisch ans Herz gehend begleitet ist ein "Träumchen". Präzision wie bei Georg Szell korreliert mit der Transparenz eines Pierre Boulez, ohne, daß es je kammermusikalisch wirkt. Was für ein schon fast vergessener Wagner! Es klingt wie einst bei Hans Swarowsky.

Über Größen wie Anja Kampe (Sieglinde) oder Mikhail Petrenko (Hunding), braucht man keine Worte zu verlieren – hier sang die Crème de la Crème des Wagner Faches. Daß man bei Gergiev – nicht nur dem Entdecker der Netrebko, sondern auch anderer angehender Weltstars – auch für die Partie des Siegmund keine Sorge zu haben brauchte, auch wenn Mikhail Vekua (Siegmund) als überwiegender Konzertsänger noch nicht ganz so bekannt ist, erwies sich als richtig. Von Statur und Stimme wäre er auch fürs Musiktheater der perfekte Alberich/Mime. Doch seine Stimme geht vom Volumen weit weit darüber hinaus und so sang er den Siegmund mit einer Wucht, Kraft und Vehemenz, wie man diese Rolle seit John Vickers nicht mehr gehört hat; technisch brillant und auch mit genügend lyrischem Aplomp.

Die Übertitelung am Fuß der großen Orgel hätte man sich bei allen drei Künstlern sparen können, denn die Textverständlichkeit war nicht nur vorbildlich, sondern grandios perfekt.

Schade, daß einige Wagner-Freaks dann schon in der Pause gingen – so wurde es leider noch leerer – denn der beste Teil des Abends kam noch, nämlich Gustav Mahlers sechste Sinfonie.

Nicht nur, daß Maestro Mahler selber die Uraufführung dieser Sinfonie 1906 im Saalbau noch dirigierte (Sic!); wir haben in den letzten Jahren wirklich viele gute Interpretationen gehört. Dabei brillierten in meinem Kurzzeitgedächtnis nicht nur das Hausorchester die Essener Philharmoniker, auch die benachbarten Bochumer unter Steven Sloane setzten Maßstäbe, wie gerade erst noch Simon Rattle mit den Berlinern, aber was Gergiev mit den Mariinsky Orchestra hervorzauberte war der pure Mahler-Wahnsinn.

Schon nach den ersten Takten bildet sich diese Gänsehaut, welche Gustav Mahler zu diesem außergewöhnlichen Ereignis werden lässt, wenn ein Dirigent auch die subkutane Ebene der Musik erfasst und nicht nur schön runterspielt wie z.B. Abbado. Das ist es! Da jubiliert nicht nur die Seele des Musikkritikers, sondern auch das Herz Publikum wird erfasst. Man sitzt quasi an der vorderen Stuhlkante der bequemen Philharmonie Sessel. Solch Interpretation ergreift den Zuhörer, packt unser Herz und lässt es erst nach 84 Minuten wieder los. Die Spannung ist geradezu atemberaubend und löst sich auch nur temporär, wenn die Musik in den beiden Hammerschlägen eskaliert und wieder zusammensinkt. Wir zittern dem Ende entgegen. Wie in einem Horrorfilm bleibt die Spannung und die Gänsehaut erhalten. Da ist kein Ruhepunkt. Am scheinbaren Ende weiß man: irgendwo lauert noch etwas. Und wenn es dann im furiosen Schlusscrescendo explodiert, sind wir, dem Herzkasperl nahe, schweißgebadet. "Es sollte klingen, als wenn an die Wurzel eines Baumes die Axt gelegt wird" schrieb Mahler später in die Partitur. Und so klang es unter Gergiev mit diesem Traumorchester.

Was für ein Abend! Man fährt euphorisiert nach Hause unter dem Eindruck einer Musik, die so begeistert wie erschüttert und freut sich jenes sprichwörtliche "Maß der Dinge" mal wieder erlebt, durchlebt und gehört, quasi mitgefiebert zu haben. Da werden dann die Probleme und Ärgernisse des Alltags zu banalen Nebensächlichkeiten – zumindest für ein Weilchen ;-)))

Bilder (c) Hamza Saad

Peter Bilsing 20.9.2018