Essen: Russian National Orchestra & Alain Altinoglu

featuring Mikhail Pletnev (Klavier)

Modest Mussorgski
Ouvertüre zu „Chowanschtschina“ (orchestriert von Dmitri Schostakowitsch)

Sergej Rachmaninow
Konzert Nr. 2 c-Moll für Klavier und Orchester, op. 18

Dmitri Schostakowitsch
Sinfonie Nr. 5 d-Moll, op. 4

Der perfekt abgestimmte, rein russische Abend begann mit Modest Mussorgskis Ouvertüre zu Chowanschtschina in der von Dmitri Schostakowitsch orchestrierten Fassung. Eine gelungene, kurzweilige Einstimmung in das Thema des Abends, welches man mit hochemotionale, tiefe Einblicknahme in die Urtiefen der russischen Seele gut beschreiben könnte. Und spätestens nach den Auftaktschlägen am Pianoforte, das kaum ein anderer besser beherrscht als Mikhail Pletnev, wenn die tiefen Streicher einsetzen, hört man die Gefühle wallen und das Herz schlagen, das in dieser stellenweise schon fast filmmusikalisch anmutenden Musik steckt. Pletnev spielt dieses sicherlich in die Rubrik der drei überall präsenten Concerti populare – neben Grieg und Tschaikowski – gehörende Werk unprätentiös und werkdienlich ehrlich. Die Musik strömt, die Koordination mit dem Orchester – mit seinem Orchester – gelingt perfekt. „Ja!“ möchte man rufen – wie später auch bei Schostakowitsch – das ist es. Schöner, traumhaft leichter und doch so emotional in seiner spätromantischen Klangkultur hat man das Werk selten gehört. Jemand schrieb einmal, dass Pletnev mit seinem pianistischen Empfindungsvermögen die idealen Schlüssel zu Rachmaninows Klavierwelt in den Händen hält. Dem kann man unwidersprochen zustimmen

Mikhail Pletnev

Nach der Pause dann allerdings die Krönung mit Schostakowitschs 5. Sinfonie. Alain Altinoglu ist der Musical Directeur des Theatre Royal de Monnaie in Brüssel. Er gilt in der Szene als Geheimtipp und dirigiert dieses Jahr neben den BBC Proms mit dem Royal Philharmonic Orchestra auch die Wiener Philharmoniker im Musikverein. Mittlerweile ist die internationale Szene auch auf ihn aufmerksam geworden, also Zeit für einen Auftritt in der Essener Philharmonie im Rahmen einer großangelegten Europa-Tour mit dem vielleicht besten russischen Orchester, eben diesem Russian National Orchestra.

Das RNO wurde im Herbst 1990 als eines der ersten nicht-staatlichen Sinfonieorchester im postsowjetischen Russland von Michail Pletnev im Rahmen der Gorbatschowschen Politik der Perestroika gegründet. Das Orchester ist in Moskau ansässig und hat keine feste Spielstätte. Es erhielt erstmals in der russischen Orchestergeschichte einen Grammy Award und wurde 2008 von der britischen Musikzeitschrift Gramophone als eines der zwanzig besten Orchester der Welt genannt. Neben den zehn besten, die ich allein in Essen hörte, käme es in meiner persönlichern Hitparade auf Platz 11. Das Orchester ist Träger des Europäischen Orchesterpreises. Finanziert wird es allein von Einzelpersonen, nennen wir sie mal Oligarchen, und Firmen auf privater Ebene, die überwiegend in Russland sitzen. Ich persönlich finde, daß solches Geld immerhin bei einem Kulturgut besser angelegt ist als bei einem französischen oder sonst irgendwo existierenden Schlappe-Kicker-Verein.

Alain Altinoglu

Die Arbeit an seiner 5. Symphonie begann Schostakowitsch am 18. April 1937 auf der Krim. Er vollendete sie am 20. Juli in Leningrad. In der Zwischenzeit – vor allem wegen des Lady-MacBeth-Skandals, bei dem er sich Stalin zum Feind gemacht hatte – waren sein Schwager verhaftet und seine Schwester nach Sibirien deportiert worden. So schrieb er eine Sinfonie, die zumindest oberflächlich Wohlgefallen finden sollte: „Diese Sinfonie ist die schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik.“ Doch Schostakowitsch ist in Wahrheit nicht eingeknickt und friedfertig harmlos geworden – obwohl seine Koffer immer gepackt waren und er täglich mit Deportation nach Sibirien rechnete, erwies er sich schon damals als Meister der Widersprüche und Zweideutigkeiten. Er nannte seine Sinfonie noch kurz vor der Uraufführung „ein Symbol für den triumphierenden Optimismus des Menschen“.

Gemeint war der stets unerschütterliche Optimismus des geknechteten russischen Volkes – wie wir heute wissen und auch alle kritischen Zeitgenossen schon damals schon aus der Musik heraushörten. In seinen Memoiren, die 1976 vier Jahre nach des Maestros Tod von seinem Sohn in den Westen geschmuggelt wurden und dort veröffentlicht wurden, schreibt er: „Was in dieser Sinfonie vorgeht, sollte jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen wie im Boris Godunov. So, als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu zu jubeln. Doch hinter dem Jubel verbirgt sich Leid. Das ist das absonderliche Schauspiel, welches das Ende der Fünften bietet. Ein tragisches Werk indem die Noten schmerzvoll Echo unserer Zeit sind.“

Russian National Orchestra
(c) bregenzermeisterkonzerte .at

Was soll man als Kritiker zu einer so perfekt gespielten Sinfonie sagen? Soll ich drei Sterne geben, oder fünf? Gar zehn? Alle Sterne des Universums für diese Interpretation? Soll ich die tolle Bernstein-Edition heranziehen oder Haitinks legendäre Aufnahmen mit dem Concertgebouw oder die seines Sohnes Maxim … Meilensteine und Leuchttürme! Und doch geht nichts über das Live-Erlebnis mit einem großen, mit einem hier perfekten Orchester. Und Altinoglu durchlotet alle Ebenen dieser Sinfonie in einer superben Perfektion, die auch den hartgesottensten Schostakowitsch-Fan erschüttern lässt. Die Nackenhaare sträuben sich, und das Herz schlägt bis zum Hals. Das von mir oft zitierte Maß der Dinge ist hier wieder erreicht worden. Ich glaube kaum, dass der Komponist selbst sein Werk hätte so bravourös dirigieren können. Und der Funke sprang über ins völlig enthusiamisierte Essener Publikum. Man hatte die Musik, man hatte ihre Aussage und man hatte den ewigen Wert dieser Sinfonie der Hoffnung verstanden. Was für ein großartiger Abend, der nachdrücklich haften bleibt.

Peter Bilsing, 9.4.2019

Bilder (c) theateressen.de / pro-arte-konzerte-essen.de

OPERNFREUND CD TIPP

Es gibt klassische Konzerte, die gerieren zu gigantischen Kultveranstaltungen; sogenannten Eternals. Im ganz großen Maßstab ist das die Last Night of the Proms in der Londoner Royal Albert Hall. Ganze 135 Jahre existiert dieses einmalige Konzertereignis schon. Die Essener Filmmusikkonzerte unter Rasmus Baumann gibt es erst seit ein paar Jahren. Nichts desto trotz hat auch dieser kleinere Rahmen internationales Format. Das Qualitätsniveau liegt schon vehement hoch und wenn die über 100 Musiker der Neuen Philharmonie Wesfalen ins sprichwörtliche Horn blasen, dann klingt dies beim London Symphony Orchestra nicht unbedingt besser. Und man merkt den Musikern an, daß so etwas Spass macht. Musik mit dem Herzen gespielt. Das ist schon etwas ganz anderes, als wenn man unten im dunklen Orchestergrab sitzt und die alltäglichen Opern-Routine abarbeiten muß. Oder nicht?

Filmmusik ist – und das spürt man mit jeder Geste und auch Ausstrahlung – für Rasmus Baumann eine großartige und wichtige Sache; zählt er doch in Deutschland mittlerweile zu den anerkannten Fachleuten, den auch andere Orchester gerne für solche Abende einladen.

Grimme Preisträger Klaus Kauker ist der ideale Moderator für ein Jugendkonzert. Er findet die Augenhöhe zu seinen jungen Zuhörern und auch die Eltern/Älteren müssen sich nicht mir Grausen abwenden – wenn er nicht gerade tanzt und singt 😉 – was allerdings bei einer so schlechten Filmmusik wie der von Ghostbusters nicht weiter stört. Ist sie ja auch unverkennbar und dreist geklaut vom alten Huey Lewis Song I Want a new Drug . War aber nicht annähernd so ein Welt-Hit, wie eben Ghostbusters von Ray Parker Jr. Warum eigentlich? Na dann hören Sie mal rein und danach geht einem dieser unfassbar simple Song einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und auch nach dem Konzert auf der Heimfahrt möchte man lieber von der Titanic-Musik träumen; doch leider kommt immer wieder dieses fürchterliche Who you gonna call… Ghostbuster durch. Aaaaargh.

Klaus Kauker biedert sich nicht beim Publikum an, und seine Witzchen haben Charme auch für Oldtimer. Voila: die Filmmusik zu Titanic hat irgendwie aufsteigenden Charakter, findet ihr nicht? Ganz im Gegenteil zum Film – Ups… hab ich jetzt was gespoilert?. Auch nimmt er sich intelligent zurück, seine kurzen Texte sind gut überlegt, trefflich platziert und nie nervend. Er ist keine Lawertüte , sondern ein wichtiges Bindeglied zwischen den Stücken. Und wenn er das Publikum motiviert mitzuklatschen – was ja leider anscheinend unvermeidbare menschliche Natur ist – dann wirklich nur bei so einen Headbanger wie Ghostbusters. Übrigens Danke Klaus, daß Du die Titanic Musik nicht mitgesungen hast 😉

Rasmus Baumann ist ein Kenner über alle Musikgrenzen hinweg und so bringt er – wohl wissentlich um den Schwachpunkt der Finalmusik – dann als großen Abschluss-Knaller und Rausschmeisser die Musik zu Peter Gun von Henri Mancini (1958) als superbe Bigband-Session. Leider lässt sich auch hier das Publikum nicht vom – wie ich es zu nennen pflege – stalinistischen Parteitagsklatschen abhalten.

Trotz aller kritischen Anmerkungen war es wieder ein toller Abend, der auch das Herz des Opernkritikers rückhaltlos begeisterte. Bitte ins feste Repertoire einbauen, denn gerade über Filmmusik kann man Jugendliche vorbildlich für Klassik begeistern. Und dankenswerter Weise hat ja Baumann mit weisen Worten den Wert der Filmmusik auf den Punkt gebracht, indem er betonte, daß gute Filmmusik sich in keinster Weise – weder in Anspruch noch Qualität – von den großen Werken der traditionellen Klassik unterscheidet.

Und wer – pars pro toto – Schreker oder Puccini unbedarft zum ersten Mal hört, könnte es durchaus für Filmmusik halten, oder nicht liebe Opernfreunde.

Peter Bilsing 24.3.2019

Foto (c) Neue Philharmonie Westphalen

P.S.1

Daß man sogar die Pausenfanfare in der Philharmonie dem filmcharaktermässig geändert hat und liebevoll auch die Orchester-Hintergrundbeleuchtung den Stücken anpasste – übrigens sehr stimmungsvoll! – sollte nicht unerwähnt bleiben.

P.S.2

Kurze Frage an die Kenner unter meinen Lesern: Was haben die Serien Inspector Barneby und Raumschiff Enterprise (Star Trek) musikalisch gemeinsam? Hier ist die Lösung. Das Instrument hat übrigens ein Russe erfunden.