Lüttich: Gelungene Raritätenausgrabung in beeindruckender Kulisse

César Francks Oper Hulda

Lieber Opernfreund-Freund,

César Franck wird hierzulande als französischer Komponist wahrgenommen und ist vor allem für sein Panis angelicus, seine Orchesterwerke und die Kompositionen für Orgel bekannt. Dass er 1822 in Lüttich im heutigen Belgien als Sohn einer Deutschen geboren wurde und durchaus auch ein respektables Vokalwerk in Form von zahlreichen Liedern, Messen sowie vier Opern hinterlassen hat, wissen, in Deutschland zumindest, allenfalls Spezialisten. Im Zuge der Feierlichkeiten zu Francks 200. Geburtstag im Dezember dieses Jahres präsentiert seine Geburtsstadt allerhand Veranstaltungen mit und um sein Werk und hat deshalb gestern im Salle Philharmonique seine Oper Hulda in konzertanter Form präsentiert.

So wie Franck selbst verschiedene Nationalitäten in sich vereinigt – mit den deutschen und belgischen Eltern war er Mitte der 1830er Jahre nach Paris übergesiedelt, ist auch sein Werk nicht ausschließlich der französischen Schule verpflichtet. Gerade seine Hulda vereint unterschiedlichste Stile, klingt nach Gounod und nimmt stellenweise Massenet vorweg, weist aber auch eine wagnerische Schwere auf und erscheint dadurch gehaltvoller als die Musik seiner französischen Zeitgenossen. Und ähnlich wie Wagner, den der historische Stoff des Nibelungenliedes zu seinem Meisterwerk inspiriert hat, so hat auch César Franck im Mittelalter das Thema für Hulda gefunden. Das Drama des norwegischen Literaten Björnstjerne Björnson erzählt eine Geschichte aus dem 11. Jahrhundert: Hulda Hustawick wird im Zuge grausamer Stammesfehden geschändet und, nachdem man ihre gesamte Familie umgebracht hat, mit Gutleik, dem ältesten Sohn von Sippenoperhaupt Aslak zwangsverheiratet. Ihr Geliebter, der Edelmann Eiolf, tötet ihren verhassten Ehemann bei einem Schaukampf, ihr Schwiegervater ersticht seinen Sohn Arne, in dem Glauben, es handle sich um Eiolf. Als sich Eiolf wieder seiner ehemaligen Geliebten Swanhilde zuwendet, trifft auch ihn Huldas Rachedurst: Sie stiftet Gutleiks Brüder zum Mord an Eiolf an und stürzt sich von einer Klippe in den Tod.

Francks Vertonung dieser archaischen Geschichte, die er von 1879 bis 1885 komponiert hatte, fand erst posthum 1894 den Weg auf die Bühne und wurde seither kaum aufgeführt, auch Tondokumente sind rar. Es existiert eine Einspielung der Ballettmusik, die italienische RAI hat sie 1960 auf Italienisch und drastisch gekürzt aufgenommen, die deutsche Erstaufführung am Theater Freiburg ist als CD bei Naxos erhältlich. Dort hatte Tilman Knabe die Entdeckung mit dem Kongogräuel verwoben, ja regelrecht zugekleistert und sie auch klanglich dermaßen mit Maschinengewehrsalven zugedeckt, dass Francks Werk in den Hintergrund treten musste. Umso ehrenvoller sind die Bemühungen in Lüttich, wo man dem Werk in Kooperation mit dem Palazzetto Bru Zane, in atemberaubender Kulisse des Salle Philharmonique in konzertanter Form zu Anerkennung verhelfen will. Neben dem gestrigen Konzert, von dem ich Ihnen berichte, wird es eine weitere Aufführung in Namur und im Juni eine im Théâtre des Champs-Élysées in Paris geben. Das musikalisch wegen seiner Mischcharakteristik äußerts interessant Werk – neben Anklängen an Gounod und Wagner fallen die zahlreichen Orientalismen und die ausgedehnten sinfonischen Passagen auf – erfährt in der gestrigen Besetzung die nahezu perfekte musikalische Umsetzung und macht Lust darauf, es einmal adäquat interpretiert auch szenisch zu erleben.

Unter der Leitung von Gergely Madaras gelingt musikalisch Großes. Nicht nur im ausgedehnten Ballett im vierten Akt, in dem der aus Ungarn stammende Dirigent mitunter teuflische Tempi anschlägt, spornt er die Musikerinnen und Musiker seines Orchestre Philharmonique Royal de Liège zu Höchstleistungen an. Er lotet Francks Musik mit all ihren Facetten aus, präsentiert klanglichen Bombast ebenso gekonnt wie die zahlreichen feineren Stimmungszeichnungen des Komponisten und ist zudem dem Sängerpersonal eine ausgezeichnete Stütze. Auch Jennifer Holloway erscheint wie eine Idealbesetzung der Titelfigur. Die aus den USA stammende Sängerin bringt neben der zarten Verträumtheit einer Massenet-Manon die klangliche Power einer Wagner-Heroine mit, traumhafte Piani wechseln sich mit emotionsgeladenen Ausbrüchen ab. Dabei macht Ihr dunkel gefärbter Sopran allein diese Hulda zu einem Erlebnis. Eine ähnliche klangliche Bandbreite hat César Franck für den Eiolf gar nicht erst vorgesehen, gönnt ihm kein einziges Piano. Die Figur muss im Dauerforte Virilität ausstrahlen und Edgaras Montvidas bewältigt diese Aufgabe mit nicht enden wollender Kraft, starkem Ausdruck und unglaublichem Atem. Die Swanhilde von Judith van Wanroij kommt da zarter daher, auch wenn der an sich klangschöne Sopran der Niederländerin im Forte dann nicht ohne Schärfe bleibt. Véronique Gens gefällt mir ausnehmend gut als Huldas Schwiegermutter Gudrun, präsentiert die Rolle mit einer Mischung aus Güte und den Gatten Aslak anfeuerndem Feuer. Der wird von Christian Helmer imposant interpretiert, während die Söhne Gudleik (Matthieu Lécroart), Eyrick (Artavazd Sargsyan), Eynar (Sébastien Droy) und Thrond (Guilhem Worms) ein klanggewaltiges Gespann bilden.

Unter den ebenfalls durchweg mehr als adäquat besetzten kleineren Rollen fällt mir Matthieu Toulouse als Arne und Bote auf; seinem imposanten, voluminösen Bassbariton hätte ich gern länger zugehört. Heimlicher Star des Konzerts ist der exzellente Chœur de Chambre de Namur. Unter der Leitung von Thibaut Lenaerts sind die Sängerinnen und Sänger Hauptakteur vieler Szenen und gleichsam Stimmungsmaler an anderer Stelle. Sie schicken vokale Wucht ebenso überzeugend in den 135 Jahre alten wunderbaren Zuschauerraum des Salle Philharmonique wie zarte Pianobögen und machen den Nachmittag somit schlichtweg perfekt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind am Ende der rund dreieinhalb Stunden begeistert, applaudieren allen Beteiligten frenetisch. Mangels Wiederholung bleibt mir heute nur der Verweis auf die Konserve – und die kann ich Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, ohne Vorbehalte wärmstens ans Herz legen: MUSIQ3 vom RTBF hat das Lütticher Konzert aufgenommen und wird es am 11. Juni um 20 Uhr senden; zudem wurde für MEZZO (www.mezzo.tv) gefilmt – hier ist ein Ausstrahlungstermin noch nicht bekannt.

Ihr
Jochen Rüth

16.05.2022

Die Fotos stammen von Anthony Dehez.