Vor genau 100 Jahren wurden sie von Neuem gegründet: die Bayreuther Festspiele. Zehn Jahre nach dem Schlussakkord 1914 konnten der Lappen bei den Wagner-Festspielen wieder in die Höhe gehen. Die Geschichte ist bekannt: Die Familie Wagner, inzwischen durch die Inflation mehr oder weniger verarmt, stellte sich auf die Hinterbeine, um das Fest auf dem Grünen Hügel auferstehen zu lassen. Die Familie Wagner: das war in erster Linie der Festspielleiter Siegfried Wagner, der, durch seine Frau Winifred tätig unterstützt, auf Werbetour ging, um die nötigen Gelder zu akquirieren.
Das alles ist bekannt bzw.: man könnte es kennen, wenn man P.P. Pachls Siegfried-Wagner-Biographie zur Hand nimmt oder sich in die Gefilde anderer Bücher über den „Clan“ stürzt. Nur hat sich die Siegfried-Wagner-Forschung in den letzten Jahren weiterbewegt. Die Internationale Siegfried-Wagner-Gesellschaft veranstaltet seit Jahren detailreiche Ausstellungen zu Sonderthemen SWs, nun hat sie, zum wiederholten Mal, im RW21 ihr Quartier aufgeschlagen, wo es um eben jene Festspieleröffnung 2024 geht, doch nicht allein um dieses Jahr. Ein wesentlicher Teil der Fahnen besteht aus jenen, die bereits 2016 „Bayreuths Weg in die Moderne (1906-1930)“ beschrieben. Im „Neubeginn“ wird also „nur“ der Komponist des monumentalen Vorspiels zur Oper „Die heilige Linde“ beschrieben (eine Tondichtung wie „Glück!“ und „Sehnsucht“?), auch Siegfried Wagners Besetzungspolitik und seine USA-Tournee. Wieder räumt die Schau mit jüngeren Gerüchten auf, wonach der Festspielleiter Cosima Wagners antijüdische Engagements-Gepflogenheiten fortsetzte. Zwar waren die jüdischen Musikerinnen und Musiker unter seiner Ägide immer noch in der Unterzahl, doch glichen sich die Zahlen im Lauf der Zeit positiv an; Siegfried Wagners öffentliche und private Meinungen zu „den“ Juden stehen nur teilweise auf einem anderen Papier. „Umbruch und Neubeginn“ markieren auch beim Festspielchef eine Strategie zwischen Konservatismus und Moderne – woran, darauf macht Achim Bahr aufmerksam, auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der ersten Nachkriegsfestspiele und die relativ kurze Zeit liegt, die ihm als Festspielleiter für Neuerungen verblieb. Der Bayreuther „Tannhäuser“ von 1930 markierte da einen Schritt in eine Zukunft, die Siegfried Wagner nicht mehr ausschreiten konnte. Wie alles hätte werden können, wäre er nur zehn Jahre älter geworden, muss – zumal unter dem NS-Regime – Spekulation bleiben. Doch kann die Schau überzeugend zeigen, dass Siegfried Wagner der Moderne und der erst nach 1945 so genannten „Entrümpelung“ der Bayreuther Bühne nicht völlig abgeneigt war. Dafür sprechen schon die Tonaufnahmen und demokratisierenden Rundfunkübertragungen aus dem Festspielhaus, die die uralten Wagnerianer nicht guthießen, dafür sprechen auch die Erneuerungen der Bühnentechnik, die baulich nüchterne wie praktische Erweiterung des Gralstempels namens Festspielhaus, nicht zuletzt Siegfried Wagners Bühnenstoffe. Dafür sprechen auch die relativ zurückhaltenden, doch merkbaren szenischen Modifikationen, die für die Hardliner unter den Besuchern schlichtweg unerträglich waren. Hans Pfitzner bekam fast einen Herzschlag, als er mitbekam, dass der Regisseur Siegfried Wagner die Tür der Hundingshütte ein wenig seitlich verschoben hatte, um das plötzlich einbrechende Mondlicht effektiver auf die Szene scheinen zu lassen. Skandal! Dass die musikalischen Erfindungen des Komponisten gelegentlich hinter den szenisch-textlichen Avantgardismen zurückblieben: auch dies gehört zu dem merkwürdig ambivalenten Bild, das die Ausstellung nun mit guten Neuinterpretationen untermauern kann.
Hand aufs Herz: Wer hat sich jemals die „offiziellen“ und inoffiziellen Festspielführer angeschaut, die 1924 herauskamen? Siegfried Wagner war, bei allem nationalkonservativem Interesse, den stockkonservativen Inhalten mancher Publikation durchaus abgeneigt. Dies ist nur einer jener Neufunde, die im parallel erscheinenden Journal der ISWG breit erläutert werden. Einige Texte von Zeitgenossen werden hier durch eine Analyse der Handbücher von 1924 ergänzt; ein wertvoller langer, Siegfried Wagners Regiearbeit betreffender Aufsatz von Dietrich Mack (dem ersten Ehemann der späteren Frau Gudrun Wagner, die von sich behauptete, dass sie „ihr Mann“, also gleichsam die Verdoppelung Wolfgang Wagners wäre) aus einem Bayreuther Festspielprogrammheft, vier großformatig reproduzierte Zeitschriftenseiten zur Eröffnung 1924, nicht zuletzt eine ausführliche Analyse des Vorspiels zur „Heiligen Linde“ (deren orchestrale Interpretation durch die Karlsbader Symphoniker man sich auch auf YouTube anschauen kann), schließlich ein profunder Artikel zu Siegfried Wagners-Rundfunk- und Schallplatten-Aufnahmen: das sind die Haupttexte zum Ausstellungsthema, die man im wie immer sorgfältig gestalteten Journal lesen kann. Dazugepackt: eine ausführliche Presseschau über die Siegfried-Wagner-Rezeption des vergangenen Jahres, nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit dem „Tannhäuser“ in Kosice, der den Siegfried-Wagner-Clan auf die Bühne brachte: mit dem Festspielleiter als auch erotisch zerrissenem Titelhelden. Und ganz am Schluss werden, nicht zu Unrecht, jene Autoren abgekanzelt, die immer noch Legenden in die Welt setzen wie jene, dass Siegfried ein „nationalsozialistischer Künstlertyp“ gewesen sei.
Siegfried Wagner war gewiss Einiges, doch sicher kein Proto- oder Echt-Nazi. Die Ausstellung und das neue Heft tragen, ohne allzu sehr der Heiligenverehrung zum Opfer zu fallen, auch hier zur Differenzierung bei. Und der Preis für das hochwertig produzierte Journal ist einfach nur sensationell günstig – anders als die ersten Nachkriegsfestspiele.
Frank Piontek, 9. August 2024
Bayreuths Weg in die Moderne. Neubeginn 1924
Ausstellung der Internationalen Siegfried-Wagner-Gesellschaft im RW21
Dienstag – Samstag, bis 29. August 2024
Das Journal Nr. LV ist auch bei der Internationalen Siegfried-Wagner-Gesellschaft erhältlich: https://www.siegfried-wagner.org/