Bayreuth: „Ariadne auf Naxos & Medea“, Georg Anton Benda

Kateřina Hebelková ist eine ganz wunderbare, mit einem füllig-lodernden, die Höhen wie die Tiefen souverän durchmessender Mezzosopran ausgestattete Vokalkapazität, der man jede Regung, jede Glut und jede lyrische Emphase glaubt.“ So war’s erst kürzlich zu lesen: in einer Rezension einer Aufführung von Smetanas Dalibor im Tyl-Theater Pilsen (https://deropernfreund.de/theater-pilsen/pilsen-dalibor-bedrich-smetana/). Kateřina Hebelková steht auch in Bayreuth als „Vokalkapazität“ auf der Bühne (des Markgräflichen Opernhauses; das andere Bayreuth wartet noch) – doch diesmal singt sie nicht. Nein, sie spricht „nur“ – aber sie spricht, nun gut klassikerdeutsch, mit einem drrramatisch rollenden „R“, doch akkurat wortverständlich und vor Allem: ausdrucksstark. Vor etlichen Jahren war Martina Gedeck als Medea hier zu erleben, der Abend in der Ordenskirche in St. Georgen, an dem die bekannte Schauspielerin durch den Gang des Hauses lief, ist noch in guter Erinnerung. Nun steht die Pilsener Mezzosopranistin auf der Bühne – und entzückt das Publikum des Festivals Musica Bayreuth mit zwei Perlen des späten 18. Jahrhunderts, die vermutlich deswegen nur selten im Konzert auftauchen, weil die Gattung Melodram für viele Besucher eher exotisch anmuten mag und die besondere Expressivität dieses so sprach- wie musikgebundenen Genres für Zuhörer, die mit der Literatur von 1775 nicht vertraut sind, fremd ist. Hand aufs Herz: Wer liest als Opern- und Musikfreund noch den Werther? Klopstocks Oden? Die Texte des Sturm und Drang? Hamamms Essays und die Traktate Winckelmanns? Georg Anton Benda, der Bruder Franz Bendas, der als Geiger am Hof Friedrichs II., des Bruders jener Wilhelmine wirkte, unter deren Leitung das Markgräfliche Opernhaus errichtet wurde, dieser Benda also schuf mit Ariadne auf Naxos und Medea die ersten beiden deutschsprachigen Melodramen, die seinerzeit selbst den strengen Kritiker W.A. Mozart so entzückten, dass er das Material einer zauberhaft empfindsamen Oboenmelodie-plus-Streicher-Passage in seiner kurz darauf komponierten und leider Fragment gebliebenen Zaide vervollkommnete („Ruhe sanft“ gehört zu Mozarts schönsten und unbekanntesten Arien), sich noch beim Auftritt der Königin der Nacht sehr genau an eine bestimmte Stelle aus Bendas Ariadne erinnerte und in der Schauspielmusik zum Thamos ein Melodram unterbrachte.

© Musica Bayreuth

Es gibt also genügend Gründe, um der besonderen, klassizistisch gezügelten und doch glühenden Leidenschaft der Bendaschen Melodramen, die einstmals dernier cri waren, heute noch Tribut zu zollen, indem man sie aufführt. Dazu bedarf es „nur“ einer guten Schauspielerin – oder einer Sängerin, die ihre Vokalkunst einbringt, um den langen, langen Text und die Aktion so überzeugend zu bringen wie eine Schauspiel-Kollegin. Wüsste man nicht, dass Kateřina Hebelková im Hauptberuf Sängerin ist, würde man denken, dass sie bisher nichts Anderes tat als Sprechen und Spielen. Die Überzeugungskraft ist überwältigend, weil sie das Pathos, das ihr die Herren J.C. Brandes und F.W. Gotter in die Kehle schrieben, nicht modernistisch zügelt, sondern ausspielt. Wer wagt, gewinnt; die Melodramen können auch in gegenwärtigen Kostümen gebracht werden – der jeweilige männliche Part tritt in Bayreuth stets wie ein Mann von Heute auf –, doch vermittelt sich die Problematik des tödlichen Beziehungsstreits und -Endes auch in der scheinbaren Nichtaktualität des Ausdrucks und des Äußeren. Unter der Regie von Apolena Veldová, kostümiert von Jitka Česáková (Ariadne mit einem luftigen klassischen Gewand, unten weiß und darüber blutrot wie der Faden, der im Zickzack über dem Bühnenboden hängt, die Zauberin und Königin Medea in edlem Schwarzgold), spielt Hebelkova die zwei Figuren, die so ähnlich und so verschieden sind: Zwei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich nach einer kurzen Trauerphase zunächst nicht entscheiden können, ob sie den treulosen Mann verfluchen oder lieben sollen. Medea findet schließlich zur traditionellen Lösung: Sie wird zur Rächerin, indem sie ihre Kinder tötet und den Palast in Flammen setzt. Ariadne aber wird von Gott Neptun, zur Sicherung ihrer eigenen Unsterblichkeit, irdisch vernichtet. In Bayreuth bricht sie, als wär’s ein Opferaltar, schließlich zusammen: ein psychischer Fall, weniger ein mythischer. Gespielt wird deutlich, aber nicht mit overacting.

So fremd auf den ersten Blick das Melodram und die Zeichnung der Frauen auch sein mag, die ihr Potential aus dem schlechten männlichen Gewissen und einer insgeheimen Angst vor starker Weiblichkeit gewinnen, so nah kommen uns die Geschichten und Gestalten, wenn sie so unverblümt heftig, aber auch zärtlich realisiert werden. Die von ihren Gefühlen zerrissene weibliche Protagonistin steht im Mittelpunkt, der Mann, um den sich das Denken und Fühlen der verlassenen Frauen dreht, ist sekundär, auch wenn die ersten Minuten der Ariadne ihm gehören. Ralf Lukas ist ein erfahrener Sänger, als solcher gestaltet er mit großem Ton zunächst den Theseus – ein Verwandter des Berliozschen Enée, der vom „Italie!“-Ruf von seiner Geliebten fortgeschwemmt wird –, dann den Jason, den Typen aus der Upper Class, der sich mit der Neuen, einer von einer namenlosen Schönheit gespielten Statistin, in der rechten Trompeterloge stolz präsentiert. Das sind so Inszenierungsmöglichkeiten im absolutistisch organisierten Opernhaus. Nebenauftritte haben eine maskierte, sehr mythische Oreade (linke und rechte Loge) und die Hofmeisterin am Hof von Medea, Jason, Kreon und Kreusa. Gundula Hintz darf auch Medeas und Jasons Kinder auf die Szene bringen, die am Ende der wütenden Frau zum Opfer fallen und einen letzten mystischen Auftritt vor dem Tod des Vaters haben. Zusammen ergibt das eine Personage, die vergessen lässt, dass das Melodram eigentlich – und uneigentlich – eine fürs Konzert- und Theaterleben fast verlorene Gattung ist, weil man damals Beides gleichzeitig wollte: Die Musik und das Theater.

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Dass es auch heute noch zu packen vermag, liegt freilich nicht allein an der Dignität der Solistin, die sich mit Verve und sprachlicher Genauigkeit in die Geschichten und Figuren wirft. Es liegt auch an Bendas Partituren, die für jeden Gluck- und Mozart-Liebhaber vertraut klingen müssten, indem sie beweisen, dass Gluck und Mozart keine absoluten Gegensätze waren. Das Orchester des J.K. Tyl-Theaters Pilsen spielt, mit einem anschmiegsamen und zur historischen Aufführungspraxis tendierenden Klang, unter Jiří Petrdlik alle möglichen Nuancen heraus, die Benda in seine farbigen Notentexte hineinwob. Es macht schon Freude, den Leitthemen zu folgen – und den wunderbaren Soli. Die Geige hat in Ariadne wie in Medea zauberhaft einschmeichelnde Passagen zu spielen, wenn es um die tiefste Gefühlswelt der beiden Frauen geht; in Pilsen sitzt ein ganz ausgezeichneter Violinist am Pult. Auch die Oboe muss genannt werden, auch das Violoncello und die Flöte. Zusammen mit den Akteuren schafft das Ensemble ein Gesamtkunstwerk, das nicht weniger dicht ist wie das der Oper.

Mag sein, dass man der Gattung Melodram Unrecht tut, wenn man sie als kleine Schwester der großen Oper bezeichnet – aber, dass sie nicht weniger ehrwürdig und hinreißend zu sein vermag wie die Oper, wird niemand bezweifeln, der den Ariadne & Medea-Abend im Markgräflichen Opernhaus besuchte, in dem eine „nur“ sprechende und agierende Mezzosopranistin das Publikum faszinierte.

Frank Piontek, 12. Mai 2025


Ariadne auf Naxos & Medea
Georg Anton Benda
Markgräfliches Opernhaus

Produktion der Musica Bayreuth und des Tyl-Theaters Pilsen

Premiere am 10. Mai 2025

Inszenierung: Apolena Veldová
Musikalische Leitung: Jiri Petrdlik
Orchester des J.K. Tyl-Theaters Pilsen