Bayreuth: „Baroque Magicians“, Lucile Richardot

Es beginnt relativ trocken, also mit einer Secco-Ouvertüre – und es endet glorios: mit zwei Zugaben.

Es: das ist das Programm der Lucile Richardot, die es beim Festival Bayreuth Baroque unter dem werbewirksamen Titel „Baroque Magicians“ in die Schlosskirche gebracht hat. Die Zauberinnen: Macht und Verführung in der Oper, so hieß 2005 ein Buch des französischen Kulturwissenschaftlers Jean Starobinski, der 2019 im Alter von fast 100 Jahren starb und noch mit 95 ein Werk veröffentlichte, was an sich schon zauberhaft ist. Starobinski schrieb damals eine Geschichte der Oper unter besonderer Berücksichtigung der großen magiciennes und sourceresses, unter denen Armida / Armide und Medea / Médée dank Gluck und Dvořák, Cherubini und Reimann auch heute noch ihre gelegentlichen Auftritte haben. Doch schon lange zuvor erlebten sie erste Auftritte auf den Musiktheaterbühnen zumal Italiens und Frankreichs; die Deutschen waren, was Zauberinnen betraf, offensichtlich immer etwas zurückhaltender als ihre südlichen Kollegen.

© Clemens Manser Photography

Auch Lucile Richardot ist eine Zauberin, was nicht allein an ihrem weinroten, mit Glitzersilber verzierten wie tief ausgeschnittenem Kleid liegt. Sie vergegenwärtigt in einem einschließlich Zugaben leider nur 80 Minuten kurzen Programm die Charakterporträts der oben erwähnten Damen und der Circe, die bekanntlich den Odysseus bezirzte und seine Männer in das verwandelte, was sie innerlich vielleicht vorher schon waren: in Schweine. Doch auch die alte Kirke ist, im Gewand des 18. Jahrhunderts, zugleich eine leidende wie leidenschaftliche zürnende Frau. Im letzten offiziellen Werk des Abends, einer veritablen Entdeckung (Hand aufs Herz: Wer außer den absoluten Connaisseuren der französischen Barockmusik kennt Francois Collin de Blamont?), einer Kantate über Madame Circé, entlädt sich noch einmal alles an Haß und Verfallenheit, Zauberkraft und Liebesohnmacht, wie es das pathetische und zugleich brutale Zeitalter so liebte. Nur das heitere, mit einer Moral ausgestattete tänzerische Finale, kommt seltsam unpassend daher; kein Wunder: der Textautor der kleinen, großen Solo-Kantate heißt Rousseau und ist ein allerdings wichtiger Vater jener Aufklärung, die, wenn man nicht aufpasst, in die ethische Sterilität führen könnte (nichts gegen Ethik!). Das Wunder des Abends aber besteht darin, dass Richardot, ausgestattet mit einem voluminösen wie wohlklingenden, alle Register souverän ausschöpfenden Mezzosopran, die Exzesse der Zauberin(nen) grandios ausspielt: als wäre der Altarraum der Schlosskirche eine Theaterbühne. Keine Geste kann zu groß, keine Handstellung zu klar sein, um nicht zum Drama beizutragen. So agiert sie zwischen „Softness and Darkness“, zwischen „Very Hotness and Despair“, wie sie selbst in ihrer Ansprache sagt. Die allzu lange Rede wird von einigen Zuhörern benöhlt, aber dieser rollendeckend agierenden Frau und Sängerin und Spielerin verzeiht man schon schnell quasi alles. Sie hat Mut zum Pathos und zur großen Geste, sie wird ganz zur Tragödin der Epoche Louis XIV. – und sie legitimiert all diesen Aufwand mit der Kraft und deklamatorischen Durchsetzungsfähigkeit ihrer Stimme, deren Ton einem dunklen, mit einer Schokoladennote aromatisierten Burgunder vergleichbar ist. Sie spielt nicht Medea, Armida und Circe – sie ist sie, um mal die alte Kritikerformel in ihr Recht zu setzen.

Begonnen hatte der Abend, wie gesagt, mit der Cembalo-Bearbeitung der Ariodante-Ouvertüre Händels, am Instrument: Jean-Luc Ho. Die Cembalostücke gehen manchmal sanft in die nächsten Arien, Rezitative, Deklamationen über, Cavallis Dell‘antro magico aus dem Giasone und Charpentiers Quel prix de mon amour aus dessen bedeutender Medea-Oper umrahmen Juan Cabaniles‘ Orgelstück Tiento lleno séptimo tono Por A la mi re, womit man nicht allein eine passende Zwischenmusik, auch ein Werk eines der größten spanischen Komponisten der Epoche (man nennt ihn wohl nicht zufällig den „spanischen Bach“) serviert bekommt. Nb: das Festival Bayreuth Baroque ist auch dazu da, uns live mit Werken bekannt zu machen, die entweder bis dato gleichsam verschollen oder zumindest dem durchschnittlichen deutschen Barockfreund unbekannt waren. Dramaturgisch stringenter ist freilich die Zusammenstellung des großen Monologs der Armide aus Lullys gleichnamiger Oper, Enfin il est en ma puissance, und Jean-Henri d‘Angleberts Passacaille d‘Armide nach Lullys Armide-Passacaglia. Da wird das Konzert zur lebendig-undogmatischen Lehrstunde.

Ansonsten herrscht die totale Spannung. Lullys Armide ist bei Richardot auch im Schmerz eine starke Frau, wenn sie Medeas zärtliches Dolce riposo aus Händels Teseo anstimmt, folgt dem das Agitato. Wenn sie Angleberts Passacaille anhört, schaut sie auf den Cembalisten: von der rechten Empore aus, auf den Musiker, also die Musik und deren „soft delicious strains“ hinweisend, die sie in William Webbs Powerful Morpheus, let thy charms zauberisch beschwört. Sie liebt überhaupt die Engländer; Purcells berühmter Song Music for a while findet noch auf der Empore und im Mittelgang statt, und das „drop“ in „till the snakes drop from her head“ wird irgendwo zwischen Rezitativ und Sprechen gebracht. Großartig? Großartig!

Also zwei Zugaben nach dem nicht enden wollenden Beifalls des Publikums: Purcells One charming night aus der Fairy Queen, dann noch einmal Music for a while. Im Gegensatz zu vielen anderen Interpretinnen dieses songs hört man wirklich die Schlangen „fallen“. Barocke Klangrede at it‘s best, das scheint in diesem Fall außergewöhnlich zu sein. Richardot hat sie mit dem ganzen Einsatz ihrer überwältigend farbreichen Stimme und ihrer kontrollierten Körperarbeit realisiert. Also Brava!

Frank Piontek, 8. September 2024


Bayreuth Baroque: Lucile Richardot – Baroque Magicians

Schlosskirche Bayreuth

7. September 2024