Markgräfliches Opernhaus, 4.9.2021
Manch Konzertabend ist wie ein Wein: Je älter er wird, desto besser ist er. Oder anders: Ein Programm, das mit den zarten Klängen einer Renaissancemusik beginnt, also mit Monteverdis Lamento della ninfa, kann mit einem typisch spätbarocken Bravourstück samt Koloraturfeuerwerk (fast) enden, bevor mit einer zweiten Zugabe der Abend kurz vor Schluss noch eine überraschende Wendung nimmt.
Simone Kermes also, zusammen mit „ihrem“ Leib- und Magenorchester, den Amici Veneziani, einer Fünfergruppe, deren Einzelteile zugleich die Summe des Ganzen ausmachen. Der Mann am Violoncello darf sie in einer Maddalena-Oratoriums-Arie des Wiener Hofkapellmeisters Antonio Caldara begleiten, die Theorbe glänzt im Ensemble und solistisch, der Mann an der ersten Geige kommt aus Neapel und sieht aus, wie man sich einen nepolitanschen General oder französischen Musketier vorstellen mag, was mich daran erinnert, dass Volker Mertens, der uns damals an der Berliner FU in Altermanistik unterrichtete (und der, nebenbei, ein exzellenter Kenner der alten und klassischen Musik ist), wie ein Troubadour der späten Mittelalters aussah. Canzonetta d‘amore heißt das Programm der zugänglichen Diva, also Liebeslied, aber gesungen werden canti d‘amore, Varianten über die Gefühle des Schmerzes, der Freude, der Eifersucht und der Raserei. Die literarische Begleitung machen Shakespeare (also Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford), Brecht, Erich Fried. Simone Kermes singt Arien aus Opern von Pergolesi (L‘Olimpiade), Vivaldi (La fida ninfa und Griselda), Händel (Giulio Cesare in Egitto) und Riccardo Broschi (Idaspe) – letztere nicht allein deshalb, weil der 1994 im Haus gedrehte Farinelli das Verhältnis des großen Sängers zu seinem komponierenden Bruder schilderte, sondern weil mit Qual guerriero in campo amato ein vitaler Siedepunkt erreicht ist, der am Beginn des Abends noch nicht ahnbar ist. Die Sängerin scheint eine Weile zu brauchen, bis sie sich in die trockene Akustik des hölzernen Logenhauses eingesungen hat; Monteverdis piano kommt noch gleichsam tastend aus ihrer Kehle. Die allerstärksten Momente hat sie, rein vokal betrachtet, in den forte-Stellen, die Pergolesi-Arie Tu me da me vividi bereitet die Empfindsamkeit der folgenden Arie – Dite, ohimè aus Vivaldis La fida ninfa – vor, in der die Trostlosigkeit der Verlassenen eine eindrucksvolle Stimme erhält, bevor die wilden und zugleich gezähmten Fiorituren der Agitata-Arie aus Griselda das Publikum gezielt in die Pause entlassen.
Es ist dies eine Eigentümlichkeit der Stimme von Simone Kermes: wenig Vibrato. Fans von Cecilia Bartoli müssen sich stets ein wenig in diese Stimme einhören, aber wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass vokaler Ausdruck nicht unbeding durch rüde flackerndes Dauertremolo befeuert wird, werden die leisen Töne zu Ereignissen. Mit dem englischen Repertoire – John Eccles‘ She ventures, and he wins und John Dowlands Now, o now I needs must part – bekommt der Abend fast am Ende einen neuen Klang, doch schon mit Henry Purcells Music for a while aus der Schauspielmusik zu Sophokles‘ Oedipus – der Musik eines Genies, der auf der Grundlage vorgefundener Muster die (englische) Musik neuerfand – „hat“ sie uns; das Instrumental-Ensemble besteht aus einem gezupften Bass, dem Gesang der Solo-Violine, dann der Theorbe, schließlich den Gesang der Laute, damit auch beweisend, dass nur fünf Musiker genügen, um durchaus verschiedene Musik-Stile und -Arten zu kreieren).
Die englische Musik wird auch repräsentiert durch den eigentümlichen Eccles; das Quintett spielt, ganz versonnen und ganz klar, sein Ground aus der Aire V, den Mad Lover, dessen Musik sanft und manisch um sich zu kreisen scheint wie der Bass immer wieder gebracht wird: so wie in Vivaldis Sonate op. 1/12 auf das berühmte Follia-Thema eine Variationsreihe entsteht und im um 1684 komponierten Duke of Norfolk ein Rondo mit Thema und Variationen das Publikum hinreißt. Die Musik des Headbangings aber ist an diesem Abend nur das eine. Der Rest ist das, was die Deutschen so gern als „tief“ bezeichnen (wie schon Eccles‘ Ground). Die Kermes animiert ihr Publikum, mitzusingen, man tut‘s so leise und diskret wie nötig, denn was soll man schon zu „Sag mir, wo die Blumen sind“ herausgröhlen? Den Schluss des Schlusses nach diesem emotional-musikalischen Höhepunkt des Konzertprogramms macht einer „der“ Schlager: Händels Lascia ch‘io pianga, das in Farinelli in genau diesem Raum gesungen wird. Starker Beifall der vielen Gäste aus der Ferne und der wenigen Besucher aus der Nähe: für einen Abend, der wie ein guter Wein ist.
Übrigens: Wer die berühmte Arie in Farinelli, gedreht im Markgräflichen Opernhaus und gesungen von einer Kunststimme, noch einmal hören will, kann‘s hier tun:
Datenschutzerklärung.
Und wer eine der absoluten Referenzaufnahmen von Sag mir, wo die Blumen sind, anhören und-schauen will, sollte sich schon einmal das Taschentuch zurechtlegen:
https://www.youtube.com/watch?v=aLAxbQxyJSQ
Frank Piontek, 5.9.2021
Foto: Andreas Harbach