Steingraeber, Kammermusiksaal, 23.4.2022
Natürlich, der Krieg. Es mag nicht selbstverständlich sein, dass eine polnische Pianistin (die im deutschen Sprachraum auch als Präsidentin der Chopin-Gesellschaft und als Dresdner Professorin tätig ist) auf das Thema dieser Wochen eingeht, aber wer als Polin Chopin aufs Programm setzt, weiß um die Problematik dieser Musik. Also zitiert Alexandra Mikulska in ihrer kleinen Moderation zunächst ein bekanntes Wort Robert Schumanns: die Mazurken des polnischen Komponisten seien „unter Blumen versteckte Kanonen“. Und also spielt die Pianistin denn auch am offiziellen Ende des Konzerts zwei jener Mazurken, die mehr sind als simple Volkstänze. Die h-Moll-Mazurka op. 30/2 wurde in einer Trauertonart notiert, und die Des-Dur-Mazurka op. 30/3 klingt doch, trotz „heiterer“ Tonart, stockend, ja nachdenklich. Zumindest klingt sie so, wenn die Pianistin sie aufs Programm setzt. Es ist „zal“, die „Schwermut“, die diese noblen Werke grundiert, die der Chopin-Biograph Bernhard Gavoty nicht zu Unrecht zu dessen originellsten zählte.
Die Pianistin? Wer die Mikulska kennt, weiß dass Klavierspielerinnen noch keine Musikerinnen sein müssen, oder anders: dass die Pianistin eine Musikerin von hohen Graden ist – glaubt man, dass bei dieser Exzellenz keine interpretatorische Luft mehr nach oben Platz hätte, fühlt sich beim nächsten Konzert angenehm enttäuscht. Ist Technik das unabdingbare Fundament jeglicher musikalischer (!) Interpretation (die Mikulska verfügt darüber souverän), wird die Musik erst interessant. Es zeigt sich bereits im Beginn: mit zwei Sonaten Domenico Scarlattis, dessen Aberhunderte von kleinen Klavierstücken unter unberufenen Händen leicht den Eindruck erwecken könnten, dass es sich um nicht gar so wichtige Opera der Musikgeschichte handelt. Werch ein Illtum, möchte man mit Ernst Jandl ausrufen, wenn Alexandra Mikulska das A-Dur- K. 429 und das a-Moll-Stück K. 54 spielt. Sie macht, ohne je zu forcieren (und der Steingraeberflügel ist dafür das richtige Medium), aus den Petitessen Miniaturdramen. Hier wie überall ist die Distinktion bemerkenswert, die sie den Einzelnoten schenkt; nichts geht im Spiel verloren. In der a-Moll-Sonate hört man plötzlich eine harmonisch bemerkenswert moderne Phrase, der wie ein Gruß in eine seinerzeit völlig unbekannte musikalische Zukunft wirkt.
Kein Geklingel – das ist auch das Motto ihrer Mozart-Deutung. Mozart und Brahms, diese beiden Komponisten gehören, noch vor Chopin, zu den Prüfsteinen jeglicher ernsthafter Musikinterpretation. Liest man, was der zweifellose Mozart-Experte Hermann Abert vor einem guten Jahrhundert über die Duport-Variationen KV 573 schrieb, und bemerkt man, dass sie der Mozart-Kenner Alfred Einstein in seiner wichtigen Bio-Monographie erst gar nicht erwähnte, wundert man sich über den Raum, den Frau Mikulska diesem Werk einräumte: die Variationen seien zwar, so Abert, ein „gut gearbeitetes und pianistisch dankbares Stück“, würden „an Gehalt doch nicht die Mehrzahl ihrer großen Vorgänger“ erreichen. Abert hörte offensichtlich nie eine Mikulska seiner Zeit – denn die Musikerin entwirft nicht nur eine pianistisch entwaffnende Suite, sondern auch eine tiefsinnige Abhandlung über die Art und Weise, einem Menuett die vielfältigsten Ausdrucksgehalte abzugewinnen. Sie erzählt gleichsam Geschichten (das macht sie immer), in diesem Fall mit Hilfe von aneinander gereihten Kostbarkeiten, die sich doch zu einem großen Ganzen vereinigen: mit einem Monolog, der wie für heute und hier geschrieben scheint, als innerster Mitte.
Innerlichkeit, das ist das Zauberwort auch ihrer Liszt-Interpretation. Die 11. Ungarische Rhapsodie bringt sie so, dass der Zuhörer Lust bekommt, Ungar zu werden – und selbst und gerade die melancholischen Momente auszukosten; die Brillanz und ungeheuer stupende Fingerfertigkeit versteht sich (fast) von selbst, ist allerdings auch Teil der Musik, nicht einer möglichen Zirkusnummer. Und so geht es weiter: mit Brahms‘ typisch herbem Capriccio fis-Moll op. 76/1 (eine indirekte musikalische Antwort auf Chopins Tagebucheintrag vom 8.9. 1831, in dem er den Krieg der Russen gegen die Polen bildmächtig beschreibt) – und mit seinem A-Dur-Intermezzo op. 118/2, seinem wohl beliebtesten Intermezzo. Ein bekanntes Stück, und doch scheint es unfassbar, wie Alexandra Mikulska den bekannten Noten eine Dignität abgewinnt, die erst einmal im Text entdeckt werden muss. Zwischen p, pp und ff geht der Weg hindurch. Es ist kein Widerspruch, dass auf die pianissimo-Phrasen das heftigste Fortissimo antwortet: es ist der Kontrast, der den emotionalen Zusammenhang und die Struktur stiftet.
Das tiefe Schweigen, danach, ist sprechender als es jeder Beifall wäre, bevor der Chopin-Block mit fünf Mazurken, dem cis-Moll-Präludium op. 45, und den Präludien op. 28/20-24 das geschriebene Programm beendet. Folgen wir den Bezeichnungen, die der Pianist Alfred Cortot den Préludes gab, so geht der Weg vom „Begräbnis“ (20) über den „Aufruhr“ (Nr. 22) zu „Blut, Wollust und Tod“ (Nr. 24) – womit einige der schrecklichen Unterthemen dieser Tage angeschlagen wären. Bei Mikulska hört man‘s, auch, wenn man nichts von den Fremdzuweisungen Cortots weiß.
Ob die Zuhörer mit der zweiten Zugabe wirklich, wie die Musikerin sagt, emotional wieder „herunterkommen“? Auch Karol Szymanowskis, des gebürtigen Ukrainers kristallines c-Moll-Präludium op. 1/7 steht mit c in einer Moll-Tonart…
Mikulskas Musik macht schließlich auch dort glücklich, wo sie traurig macht.
Frank Piontek, 23.4.2022
Foto: ©A.M.