Steingraeber, 2.11.2017
Klassik meets Kuba
„Jetzt schwebt sie gleich von der Decke“, raunt die Zuhörerin, bevor die Pianistin in der Tür des Künstlerzimmers erscheint. Yamile Cruz Montero schwebt nicht von der Decke, aber in den nächsten Stunden können wir, der Spiegel über den Tasten macht’s möglich, auf ihre Hände schauen und in den letzten Stücken des ungewöhnlichen Konzertprogramms mit immer größerer Faszination der Handarbeit der jungen Frau aus Havanna zuhören.
Aufs erste Hören mag es wie ein Widerspruch in sich erscheinen: hier die Europäer der sog. Romantik, also Liszt, Wagner und Schumann, dort zwei Kubaner von Anno 1900 und 1930. Tatsächlich haben die beiden Teile viel miteinander gemein – denn klingen einige Sätze der „Suite Andalucia“ des Ernesto Lecuona und der Tänze des Ignacio Cervantes nicht an die Klaviersätze des jungen Schumann an? Sozusagen als kubanische Davidsbündlertänze? Nur dass Lecuonas Ästhetik auch von Ravel (dem Schumann-Verehrer) herkommt und mit der eines Gershwin verwandt ist, der nicht nur in seiner „Cuban Ouverture“ den Rhythmus einer farbigen Welt in die anspruchsvolle Unterhaltungsmusik hinein brachte. Unterhaltend ist alles, was Montero spielt: auch die 8 Tänze aus Ignacio Cervantes‘ Suite von 41 Klaviertänzen. Freilich komponierte das Klaviergenie aus Havanna, der beim Pianovirtuosen Charles-Valentin Alkan in die Schule ging, keine Tänze zum Tanzen. Doch wenn die Frau aus Kuba die Habaneras, Rumbas und Tangos mit schier mitreißender Brillanz spielt, fährt es dem Zuhörer so in die Füße, dass er es bedauert, erst jetzt von Cervantes und Lecuona gehört zu haben. Dessen Anadalusische Suite besitzt nicht die Modernität der pseudospanischen Klavierstücke Debussys und Ravels, gut gemacht, sentimental, impressionistisch angehaucht sind auch sie. Erinnerungen an dunkle Nächte und an die Vergangenheit in und bei der Alhambra stellen sich sofort ein.
Programme wie diese schließen nicht zuletzt Bildungs- und Vergnügungslücken.
Spielt die Frau auch den Schumann gleichsam kubanisch? Sie bringt den „Faschingsschwank aus Wien“ mit größter intellektueller und manueller Kontrolle, aber wie schon die beiden, fast wie sehr vitale Improvisationen daher kommende Wagner- und Schumanntranskriptionen Franz Liszts nicht trocken. Sie bevorzugt den leicht spitzen Einzelton, aber sie spielt ihn nicht hart. Sie spielt ihn meist sehr schnell und doch bleibt die rhythmisch stockende „Romanze“ eine depressive Meditation. „Ziemlich lebhaft“, so lautet ja die erste Vortragsbezeichnung. Bei Montero haben wir es mit einem jungen, unsentimentalen Schumann zu tun, dem man anhört, dass er seinen Hass auf das Metternich-Regiment in die Kanonenschläge einer ungemütlichen Wiener Walzerwelt gelegt hat, in die das Zitat der Marseillaise hineinkrachte. Ist das „höchst lebhafte“ Finale in seiner glasklaren Motorik nicht dem Gitanerias-Satz aus Ernesto Lecuonas Andalusischer Suite verwandt?
Nein, Yamile Cruz Montero schwebte nicht von der Decke, aber sie entführte die Zuhörer immer wieder, ungeahnte Brücken zwischen Schumann und ihre Landsleute schlagend, in gleichsam höhere Regionen. Zwei Zugaben – drei weitere wären in Ordnung gewesen.
Foto: Andreas Harbach (andreasharbach.de)