Pionteks Bayreuth: „Andrea Bonatta“

Wie sieht eigentlich – und uneigentich – ein „richtiger“ Liszt-Stil aus? Gibt es das überhaupt: „den“ Liszt-Stil? Muss er nicht, wie‘s das herkömmliche Bild will, markig-männlich, aber auch tiefgründelnd lyrisch daherkommen?

© Andrea Bonatta

Natürlich gibt es „den“ Stil in der Musik nicht, wird es auch niemals geben. Andrea Bonatta, in Bayreuth kein Unbekannter mehr, seit er 1985 am Wahnfried-Flügel Liszts Zyklus der „Harmonies poétiques et religieuses“ spielte und 1989 das gesamte Werk auf einem Eduard Steingraeber einspielte, Bonatta bevorzugt all das nicht, was der kleine Moritz für den „echten“ Liszt halten könnte. In Steingraebers Kammermusiksaal sitzt er entspannt am Flügel – und präsentiert uns eine durchaus andere Lesart als all jene, die er in Bayreuth vorgelegt hat. Hier, wo die zehn Stücke der Sammlung stets nur als Einzelteile gespielt wurden – selbst im Liszt-Jahr 2011, wo Lev Vinocour immerhin ausdrücklich, am 28. Juni in der Stadthalle, die Urfassung der „Harmonies poétiques et religieuses“, also den späteren vierten Satz „Pensées de morts“ präsentierte –, hier bleiben Vorspielungen des gewaltigen, etwa 100 Minuten dauernden Zyklus‘ nicht Raritäten, sondern schlicht und einfach aus. Dabei gehören die Stücke, die 1853 das letzte Mal überarbeitet wurden, zu den revolutionären Opera des Meisters, der mit seinen sowohl religiös als auch poetisch inspirierten Klavierstücken die Musikwelt der sog. Romantik tief prägte. Bonatta wird ihnen gerecht, indem er nicht wie ein Hohepriester der sakral verzückten Muse, sondern wie ein ruhiger Sachwalter des Lisztschen Klangkosmos agiert. Die einleitende „Invocation“ schwitzt also nicht inbrünstiges Christenblut, sondern kommt jugendlich daher. Man könnte es auch für altersweise halten.

Wo sich das Poetische unlösbar mit dem Religiösen verbindet, geht der Interpret auf das Ganze einer Deutung, die das Entspannte, nicht das Drängende betont. Das „Ave Maria“ kommt quasi improvisando daher, das Riesen-Crescendo der „Bénédiction de Dieu dans la solitude“ wird altmeisterlich aufgebaut, bevor der Ausklang des riesigen Satzes schlicht verzaubernd über den Hörer kommt. Bonatta spielt einfach, um ein seltsames Wort Carlos Kleibers zu zitieren, „das, was in den Noten steht“. Er erreicht sein Publikum nicht durch Tastenspielereien, sondern die Lauterkeit seines Spiels, das nur die schlichtesten Mittel einsetzen muss, um Alles zu bringen. Ihm geht der Ehrgeiz ab, alles auf Hochglanz und geschliffene Schärfen zu bürsten. Wo, wie besonders im „Pater Noster“, das Religiöse die Poesie ist, wird die Musik zugleich balladesk, was, wo‘s taugt, impressive Wirkungen ersten Ranges (wie in den „Funérailles“) nicht ausschließt, aber die Wirkungen haben immer ihre (poetisch-religiösen) Ursachen.

Riesiger Beifall also für eine bemerkenswert zurückhaltende, doch gerade deshalb bemerkenswerte, eben stilvolle Interpretation des Meisterwerks.

Frank Piontek, 7. Oktober 2023


Steingraeber, Kammermusiksaal, 5. Oktober 2023

Harmonies poétiques et religieuses

Andrea Bonatta, Flügel