Rossini Opera Festival 2012

La Podles zurück beim ROF

CIRO IN BABILONIA, Rossinis Dramma con cori von 1812, markierte beim Rossini-Festival die vorletzte Etappe in der szenischen Realisierung aller Werke des „Schwans von Pesaro“. Nun fehlt nur noch Aureliano in Palmira – die einzige für einen Kastraten geschriebene Oper Rossinis. Im Ciro auf den Text von Francesco Aventi hat der Komponist einen biblischen Stoff aus dem Alten Testament mit einer Liebes- und Intrigen-Handlung verwoben – Baldassare, König von Babylonien, hat den persischen König Ciro besiegt und dessen Gemahlin Amira sowie beider Sohn entführt. Eine Weigerung auf sein Heiratsangebot soll sie mit ihrem Tod büßen. Ciro gelingt es, als Botschafter verkleidet, in den Palast zu kommen, doch wird er von Baldassare erkannt und mit Kerkerhaft bestraft. Der König will Amira unter allen Umständen zur Frau nehmen und lässt das Hochzeitsbankett richten. Doch unter gewaltigem Donner schreibt eine geheimnisvolle Hand seltsame Worte an die Wand, die Baldassares Untergang voraussagen. Am Ende wird Ciro befreit und besteigt triumphierend den Thron als neuer König.

Regisseur DAVIDE LIVERMORE ließ die Handlung in der Ästhetik alter Stummfilme ablaufen, was unglaublichen Effekt machte und überaus witzig war. Schon die Sinfonia wurde amüsant bebildert – mit mondän gekleidetem und exaltiertem Kinopublikum der 20er Jahre, einer Programmheftverkäuferin mit Bauchladen und dem aufgeregten Vorführer mit der Filmrolle, der später noch einige Male Bandsalat in Ordnung bringen musste. Auf dem Theatervorhang lief der Vorspann des Streifens ab: ROF presenta…, und auf der Rückwand der Bühne sah man immer wieder erklärende Zwischentexte, welche die Übertitel ersetzten, sowie Ausschnitte aus dem Film mit herrlich altmodischem Pathos, wo die Augen gerollt und die Arme gen Himmel gehoben wurden. Die Sänger selbst hatten diese Szenen in der Probenzeit gefilmt und ganz offensichtlich Riesenspaß daran gehabt. Vor allem EWA PODLES in der Titelrolle, endlich zurück in Pesaro, die in ihrer Bühnenpräsenz und der Interpretation ohnehin einen gewissen aus der Mode gekommenen Stil pflegt, war einfach umwerfend in ihren Posen und Gesten. In NIVCOLAS BOVEYs Bühne, welche historische Aufnahmen von Tempeln, Säulengängen und Gefängnissen in surreal schräger Montierung zeigte, wurden die Personen, atemberaubend elegant gewandet, auf Treppenpodesten hereingefahren, auf denen sie zunächst wie erstarrt verharrten, um dann ihre Emotionen in outrierten Haltungen auszudrücken. Die aufwändigen Schwarz/Weiß-Kostüme GIANLUCA FALASCHIs in einer raffinierten Melange aus historischen Vorlagen, Jugendstil- und Art-déco-Ornamenten sowie die kunstvoll-bizarren Kopfbedeckungen zwischen „Turmbau zu Babel“, mehrstöckigen Torten und Vogelkäfigen verdienen ein besonderes Lob. La Podles nahm sogleich im ersten Auftritt, einer schmerzvollen Cavatina Ciros wegen der geraubten Gattin, mit ihrer hochpersönlichen, profunden Stimme und dem phänomenalen Aplomb in der Cabaletta für sich ein und sorgte auch später mit ihren imposanten Brusttönen, dem Fluss der Koloraturen und dem emphatischen Ausdruck immer wieder für Jubel im Haus. JESSICA PRATT als Amira war eine Stummfilm-Schönheit wie aus dem Bilderbuch; der potente, in der Farbe etwas anonyme Sopran bewältigte die Partie sehr respektabel. Gelegentlich klangen die Spitzentöne leicht grell, wirkten die staccati etwas schwerfällig und die Effekte in der Tiefe unorganisch. Aber sehr delikat sang sie ihre große Arie „Deh! per me non v’affliggete“ und dominierte am Ende gemeinsam mit Ciro das große Finale Secondo, bei dem beide auf einem Streitwagen sich im Triumph dem Volk zeigen. Für mich war MICHAEL SPYRES als Baldassare das vokale Ereignis der Aufführung. Der Tenor mit reichem, schmeichelnd-sinnlichem Timbre, unglaublicher Substanz in der Mittellage und Tiefe sowie dem heroischen Aplomb in Otello-Nähe ist in diesem Fach heute ohne Vergleich. Flórez verfügt ganz sicher über mühelosere und auch metallischere acuti, aber der Amerikaner ist ihm in der Vielzahl der Nuancen und Farbschattierungen deutlich überlegen. RAFFAELE COSTANTINI als Prophet Daniello mit reifem, dröhnendem und in der Tiefe limitiertem Bass, CARMEN ROMEU als Amiras Vertraute Argene mit energischem, herbem Mezzo, ROBERT McPHERSON als Kapitän Arbace mit charaktervollem, in der Höhe etwas gequält klingendem Tenor und MIRCO PALAZZI als babylonischer Prinz Zambri ergänzten die Besetzung. Der Coro del Teatro Comunale di Bologna (LORENZO FRATINI) sang nicht nur glänzend, sondern war in dieser Inszenierung im Spiel besonders gefordert als Kinopublikum, das oft auch in die Handlung eingreift. Das Orchestra des Comunale die Bologna spielte unter WILL CRUTCHFIELD mit Brio und Eleganz. Der delikat-federnde Rhythmus verhalf vor allem der Bankettszene im 2.Akt, wo man sich beinahe in einem Revuetheater der Zwanziger mit herrlich blasierten Tänzerinnen in Feder- und glitzernden Strasskostümen wähnte, zu außerordentlicher Wirkung. Bis zum Ende wurde der Eindruck, der Vorführung eines Filmes beizuwohnen, konsequent beibehalten, wozu auch die vielen Filmstörungen beitrugen, die vielleicht etwas zu oft eingesetzt wurden – aber das ist ein marginaler Einwand für eine insgesamt treffliche Konzeption und Realisierung von Rossinis früher seria.

Dagegen fiel die zweite Neuproduktion der Saison, IL SIGNOR BRUSCHINO, deutlich ab. Das Regie führende Teatro Sotterraneo siedelte die farsa giocosa in einem Vergnügungspark, dem Rossini Land, an, wo für Touristen heitere Rossini-Opern aufgeführt werden. Wegweiser auf der Bühne mit Titeln der Werke oder zur Osteria da Filiberto, dem Gastwirt aus dem Bruschino, geleiten die Besucher in die gewünschte Richtung. Die Ausstattung übernahm die Accademia di Belli Arti di Urbino. Sie zeigte eine heutige, belebte Straßenszene mit Souvenirladen, Getränkeautomat und Toilettenhäuschen; die zu Beginn erscheinenden Figuren der Handlung wurden von einem Spielleiter noch schnell eingewiesen und wechselten dann ihre moderne Alltagskleidung mit historischen Kostümen. Beide Zeitebenen vermischten sich auch während der gesamten Aufführung, wenn immer wieder Reisegruppen mit ihren Führern die Bühne bevölkerten oder Touristen die unerlässlichen Fotos schossen. Viele Gags, ohnehin nicht sonderlich originell, wurden über Gebühr strapaziert, was auf Dauer verstimmte. Am Ende waren Sofia, das Mündel ihres Vormunds Gaudenzio, und Florville, Sohn dessen ärgsten Feindes, wider alle Hindernisse glücklich vereint und versammelten sich zum gemeinsamen Abgesang auf die Liebe zum Gruppenbild an der Rampe.

Auch gesanglich enttäuschte der Abend im Teatro Rossini, denn mit MARIA ALEIDA war die zentrale Sopranpartie des Werkes ungenügend besetzt. Ihr säuerlich klingender und in der Mittellage klirrender Sopran schwang sich zwar in stratosphärische Höhen auf, konnte in diesem Bereich auch mit einzelnen schönen Tönen sowie virtuosen staccati punkten, doch insgesamt wirkte die Stimme zu unausgeglichen und mehrfach quietschend. CARLO LEPORE gab den Gaudenzio mit ausladendem Bass von knurriger Tiefe und vereinte sich mit Florville (DAVID ALEGRET mit kraftvollem Tenor, dem es ein wenig an Schmelz mangelte) und Bruschino padre (ROBERTO DE CANDIA als klassischer Bassbuffo, der fortwährend über die Hitze stöhnt) zu eloquentem Geplapper im Terzett. ANDREA VINCENZO BONSIGNORE war der pfiffige Filiberto mit jugendlich-virilem Bassbariton, CHIARA AMARU das Zimmermädchen Marianna mit robust-deftigem Mezzo und FRANCISCO BRITO der Bruschino figlio in einem Kurzauftritt. DANIELE RUSTIONI dirigierte das Orchestra Sinfonica G. Rossini mit launischem Esprit.

Dafür erwies sich die Wiederaufnahme der MATILDE DI SHABRAN in MARIO MARTONEs Produktion aus dem Jahre 2004 als wahrer Glücksfall, wirkte sie insgesamt in der Besetzung doch ausgeglichener und im Zusammenspiel noch gelöster und vergnüglicher. Auch JUAN DIEGO FLOREZ als Frauen verachtender Corradino stemmte seine Raketentöne in der exponierten Lage mit noch mehr Kraft und Sicherheit und fühlte sich offensichtlich überaus wohl im Ausstellen seines komischen Talentes mit einer gehörigen Portion Ironie. In der Mittellage wurde er gelegentlich vom Orchestra del Teatro Comunale di Bologna überdeckt, das MICHELE MARIOTTI meisterhaft dirigierte – rhythmisch-straff, akzentuiert und mit hinreißendem accelerando-Sog in der Sinfonia und den Finali. Die neue Interpretin der Titelrolle, OLGA PERETYATKO, hatte keinerlei Mühe mit dem virtuosen Anspruch ihrer Partie, sang reizend und spielte anmutig-kokett. Man freute sich über liebliche Triller, die obertonreiche Dominanz in den Ensembles und das virtuose, staccato-geschmückte Rondò im Finale. Leicht aufgeraut, aber voluminös und mit grimmigem Nachdruck sang SIMON ORFILA Corradinos Turmwächter Ginardo, NICOLA ALAIMO mit profundem Bass den Arzt Aliprando. Edoardo, der sich Corradino zu unterwerfen weigert und deshalb im Schloss gefangen gehalten wird, ist eine Hosenrolle, die ANNA GORYCHOVA imponierend ausfüllte – ein reich timbrierter, dunkel glühender Mezzo mit üppigem Umfang und satter Tiefe, der zu großen Hoffnungen berechtigt. Mit exaltierter Allüre trat Matildes Nebenbuhlerin um Corradinos Gunst, die Contessa d’Arco, auf, die CHIARA CHIALLI mit charaktervollem Mezzo und gebührend pathetischem Aplomb gab. Aus dem Dichter Isidoro, der sich mit den militärischen Heldentaten anderer brüstet, machte PAOLO BORDOGNA ein Kabinettstück. Mit kernigem Bariton, vitaler Spielfreude und bravouröser Eloquenz (denn die Partie steht in der Nähe des Figaro im Barbiere) sorgte er mehrfach für Jubel im Saal.

Am letzten Abend des Festivals war Maestro ALBERTO ZEDDA bei einer konzertanten Aufführung von TANCREDI zu erleben – eine Rossini-Sternstunde dank der unglaublichen, nicht einen Moment nachlassenden Energie und zündenden Vitalität des Direttore artistico des Festivals. In der Besetzung war für mich die Russin ELENA TSALLAGOVA als Amenaide die Entdeckung. Ihr substanzreicher, aber zu feinsten Schattierungen fähiger Sopran klang bis in die Extremhöhe gerundet, virtuos in den Koloraturläufen und packend expressiv. Ihre große Szene im Gefängnis „Giusto Dio!“, vom Altmeister in Sachen Rossini am Pult des Orchestra del Teatro Comunale di Bologna sehr atmosphärisch eingeleitet, hatte ergreifende Wirkung und gipfelte in einem bravourösen Schlussteil. Mirakulös im Zusammenklang ertönten Amenaides Duette mit Tancredi. DANIELA BARCELLONA nutzte ihre reichen Erfahrungen mit der Partie, auch wirkte die Höhe an diesem Abend nur wenige Male grell und aufgerissen. Der strenge Mezzo mit dem unruhigen Vibrato imponierte mit seinem energischen Ausdruck und fand vor allem im letzten Solo „Perchè turbar la calma“ trotz der effektvollen Töne in der Tiefe zu würdevoller Schlichtheit. Für den Argirio setzte ANTONINO SIRAGUSA seinen Tenor von stupender Flexibilität mit kraftvollen und sicheren Spitzennoten ein. Freilich klangen diese auch hier zuweilen enervierend grell und penetrant keifend. MIRCO PALAZZI war ein ungewöhnlich jugendlicher Orbazzano mit rauem Bass, CHIARA AMARU die Isaura mit interessant gutturaler Stimme von sattem, resolutem Altklang, die sich damit auch für größere Aufgaben empfahl, und CARMEN ROMEU ein frischer, nachdrücklicher Roggiero mit herbem Mezzo. Der Coro aus Bologna (LORENZO FRATINI) punktete erneut mit kultiviertem und sehr differenziertem Vortrag. Sehr angenehm empfand man, dass man an diesem letzten Abend nicht mit einer Sterbeszene in die Nacht entlassen wurde, sondern das beschwingt lieto fine der Venedig-Fassung von 1813 erklang. Für all jene, die diese wunderbare Aufführung nicht im Teatro Rossini erleben konnten, war die Video-Live-Übertragung auf die Piazza del Popolo eine willkommene Alternative.

Unbedingt erwähnt werden muss ein Konzert mit der italienischen Sopranistin MARIELLA DEVIA im Teatro Rossini. Unter dem Motto „Voce che tenera“ sang die in Italien überaus beliebte, in Deutschland leider viel zu wenig bekannte Künstlerin Arien von Rossini, Bellini und Donizetti – ein klassisches Belcanto-Programm also, in dem auch die Stärken und Meriten der Sängerin liegen. Schon mit Bravo-Rufen beim ersten Auftritt begrüßt, war der reife, aber technisch noch vollkommen intakte Sopran zunächst mit der Cavatina der Adelaide di Borgogna zu hören – mit in der Höhe leichten Verhärtungen und bohrenden Tönen, aber phänomenalen, schier endlosen Koloraturgirlanden. Es folgten Rezitativ und Cavatina der Amenaide aus Tancredi, wo vor allem der dramatische Ausdruck überzeugte. In der großen Szene der Giulietta aus Bellinis I Capuleti e i Montecchi wirkte die Stimme etwas fragil und nicht in jedem Ton sicher, während Normas „Casta Diva“ durch die großzügige Phrasierung, den herrlichen legato-Fluss imponierte. Zum absoluten Höhepunkt aber geriet die Finalszene der Anna Bolena aus Donizettis Oper mit fulminanten Spitzentönen schon im Rezitativ, packender Expression, stupenden Atemreserven und überwältigendem Aplomb in der Cabaletta. „Sei l’unica!“ ertönte es von den Rängen – hier wurde eine wahrhafte Belcanto-Königin gebührend gefeiert, die sich Musettas „Quando m’en vo“ und der Wiederholung der Bolena-Szene bei ihrem enthusiastischen Publikum bedankte. Das Orchestra Sinfonica G. Rossini unter ANTONINO FOGLIANI hatte die Diva aufmerksam begleitet und mit je einer Ouvertüre der drei Komponisten das Programm bereichert. Jene zu Semiramide am Anfang ließ noch manch verunglückten Ton vernehmen, doch bei Norma überzeugte der dramatische Impuls und bei Maria Stuarda der federnde Schwung.

Bernd Hoppe, 26.08.2012