Premiere: 06.09.2020, besuchte Vorstellung: 25.09.2020
Jeder in seiner eigenen Welt
Lieber Opernfreund-Freund,
in einer orchestral reduzierten „Saarbrücker Fassung für 14 Musiker“ ist derzeit Verdis Trovatore am Saarländischen Staatstheater zu erleben – und das meine ich wörtlich: Die sinnfällige Inszenierung von Tomo Sugao ist mit die beste Interpretation des an sich wirren Stoffes, die ich in den vergangenen Jahren habe sehen dürfen, und gerät dank der packenden musikalischen Umsetzung in der Tat zum Erlebnis.
Schon Verdi sah in Azucena die Hauptfigur der Geschichte – und das setzt der aus Japan stammende Sugao stringent um, zeigt die „Zigeunerin“ (diese Vokabel ist auch in den Übertiteln konsequent in Anführungszeichen gesetzt) omnipräsent und als Außenseiterin. Jede Figur hat ihre eigene (Innen-)Welt, ist in ihr gefangen. Die Welten ähneln sich im Aufbau, sind jedoch von unterschiedlicher individueller Erscheinung. Nur Azucena irrt als Obdachlose dazwischen umher, pflegt die Reliquien ihrer eigenen Geschichte – einen Kinderschuh beispielsweise oder den Lautenhals ihres Ziehsohnes Manrico, den sie großgezogen hat, nachdem sie geistig umnachtet ihr eigenes Kind ins Feuer geworfen hat. Manrico ist auch gleichzeitig der Sohn des Mörders ihrer Mutter – darüber ist sie wahnsinnig geworden, hin- und hergerissen zwischen Liebe zu ihm und Rachegedanken, schiebt einen alten Kinderwagen vor sich her. Und diesen Wahn merkt man auch der intensiven Interpretation von Judith Braun vom ersten Ton an an. Düsteres Timbre und wahnhafte Höhen zeichnet ihren ausdrucksstarken Mezzo aus – und doch hätte ich mir vor der bildgewaltigen Kulisse ein wenig mehr Gänsehaut gewünscht.
Die zweite Frauenfigur der Oper lebt in einer eher heilen Welt. Das überaus gelungene Licht lässt Leonoras Innenwelt wie aus feinstem Biskuitporzellan erscheinen. Die Regie zeigt die Ines als eine Art Alter Ego Leonoras und Carmen Seibel gerät mit ihrer betörend warmen Stimme für mich zur Überraschung des Abends. Zum ersten Mal nehme ich dank ihrer einfühlsamen Interpretation diese Figur als mehr als eine Stichwortgeberin wahr. Pauliina Linnosaaris kraftvoller Sopran hingegen mag am gestrigen Abend nicht so recht ansprechen, die Höhen gelingen nur mit recht viel Druck; hier fehlt mir oft eine Prise Gefühl, so dass mich die Finnin als Leonora vor allem durch ihre hingebungsvolle Darstellung und die satte Mittellage überzeugen kann. Manrico ist Titelfigur und ein forscher, junger Mann und das sieht man auch der Kulisse an: in seinem Raum bricht sich die Natur Bahn und im Gefängnis im letzten Bild findet er sich, durchaus nachvollziehbar, in Leonoras Porzellanwelt wieder. Entsprechend dieser Interpretation geht Angelos Szamartzis die Rolle an, wie ein wagemutiger Naturbursche wirft er sich der anspruchsvollen Partitur entgegen, stellt sich angstlos den Spitzentönen, die er mühelos nimmt, als würden sie gerade am Wegesrand liegen, und gefällt durch seinen weiches, enorme Emotionen transportierendes Timbre.
Peter Schöne ist ein Luna wie aus dem Bilderbuch: er verfügt über ausreichend Kraft, um diesen Machtmenschen kalt und von emotionaler Härte anzulegen, zeigt aber dermaßen viele Facetten und entblättert alle Farben seines klangschönen Baritons, so dass ihm das Kunststück gelingt, Mitgefühl für seine sonst recht unsympathische Figur zu wecken, deren Innenwelt von der Regie als Stein gewordene Wüste gezeichnet wird. Grandios! Der Ruiz von Algirdas Drevinskas ist der Outlaw der Geschichte, sein Gesicht ist ebenso bemalt, wie seine Welt graffitibesprüht ist; der Litauer ist seit beinahe 30 Jahren am Haus und doch klingt sein Tenor frisch und jung. Ferrando erzählt zu Beginn die Vorgeschichte und wird von Tomo Sugao als detailverliebter Chronist mit Buchhalterseele gezeichnet; Hiroshi Matsui steuert seinen ausdrucksstarken Bass bei und komplettiert so das durch die Bank beachtenswerte Solistenensemble.
Massenszenen fehlen in Coronazeiten, der Chor singt weitestgehend aus dem Off, wird allenfalls da und dort mitsamt der Bühne aus dem Untergrund emporgefahren. Unter der Leitung von Jaume Miranda entfalten die Damen und Herren ihre fein aufeinander abgestimmten Stimmen, während Justus Thorau im mit nur 14 Musikern besetzten Graben die Fäden zusammenhält. Und doch fehlt seiner Interpretation das kammermusikhafte, das man bei dieser Besetzung vermuten würde. Im Gegenteil: einen Verdi voller Esprit und Klanggewalt präsentiert uns der 1. Kapellmeister, schlägt sportliche Tempi an und befeuert das Saarländische Staatsorchester zu Höchstleistungen, ohne dabei die Sänger aus den Augen zu verlieren, erzeugt so Gefühl ohne übertriebene Sentimentalität. Das Publikum im ausverkauften Haus ist hingerissen und applaudiert begeistert – und auch ich ermuntere Sie nach diesem überzeugenden Abend zu einem Besuch im Saarland. Die Lesart Sugaos und die musikalische Qualität lohnen jede Reise.
Ihr
Jochen Rüth
26.09.2020
Die Fotos stammen von Martin Kaufhold