Premiere am 04.10.2014
Unmotivierte Strichfassung: Eine Lucia im Fernsehformat – aber der Gesang stimmt
The Bride of Lammermoor ist eine von Walter Scott 1819 veröffentlichte Erzählung, die einer damaligen Mode folgend im „romantischen Schottland“ des späten 16. Jhdts. spielt. Die Handlung der Geschichte läuft vor dem bekannten historischen Hintergrund der Zeit ab: Französische und englische Interessen spalten das Land. Die verfeindeten Ashtons und Ravenswoods sitzen aus verschiedenen Gründen beide in der Klemme; die versuchte Zwangsverheiratung von Lucia durch ihren Bruder Lord Enrico Ashton führt zur Katastrophe weil sie den Familienfeind Sir Edgardo di Ravenswood liebt. Donizettis Oper auf dem Libretto von Salvatore Cammarano war nicht die erste Vertonung des noch jungen Stoffs, als sie 1835 in Neapel uraufgeführt wurde, aber es ist die einzig überlebende, dazu eine der beliebtesten Opern Donizettis überhaupt und ein Paradebeispiel, wie sich der italienische Belcanto-Stil mit der Romantik amalgamiert. Man findet die typische Dreierkonstellation vor: das Liebespaar mit Sopran und Tenor sowie Enrico als stimmfinsterem Gegenspieler. Der ist von beiden Widersachern der Abgefeimtere und verfügt im Plot der Oper noch über Helfershelfer, die ihm bei einer gemeinen Intrige helfen. Edgar und Lucia müssen zugrunde gehen. Das alle spielt in herber düsterer Landschaft, auf Friedhöfen vor der Kulisse finsterer Schlossgemäuer. Zusammen mit der unentrinnbaren Handlung macht das den Reiz der Oper aus, bei der Inszenierungen der letzten Zeit immer mehr soziokulturelle Facetten an die Oberfläche bringen. Eine einfache Geschichte der Schauerromantik mit finsteren Schlössern, Burgruinen und herber Hochmoorlandschaft wird heute zumindest nördlich der Alpen kaum noch inszeniert.
Xavier Moreno (Edgardo), Yitian Luan (Lucia), im Hintergrund: Judith Braun (Alisa)
Eine starke Frauengestalt Lucia mit einem vergeblichen Befreiungsversuch aus ihrer Situation zwischen den zwei verfeindeten Männern (Bruder und Geliebter), die aber beide gleichermaßen Exponenten des männlichen Herrschaftsanspruchs darstellen, wollte der Regisseur Ben Baur in Saarbrücken auf die Bühne bringen. Das ist ihm aber nur teilweise gelungen, denn Baur und die Dramaturgin Caroline Scheidegger verheddern sich in den dramaturgischen Abläufen einerseits und überflüssigen Mätzchen des Regietheaters andererseits. Schon bald nach ihrem Herauskommen hat man an den etwa zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit der Oper zu kürzen begonnen, bis sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wieder eine regelmäßige Spielpraxis für die italienische und französische Fassung des Werks durchsetzte. Eine der frühen Streichübungen war, die Oper nach der Wahnsinnsarie der Lucia zu beenden. Da konnte sich die Primadonna sich mit diesem Bravourstück am Ende gebührend feiern lassen, was ganz in ihrem Sinne lag, und dem Tenor im Schlussbild keine weitere Gelegenheit mehr zur Profilierung gab. Diese Spielweise lag aber auch in den romantischen Gepflogenheiten, die Handlung spektakulär enden zu lassen – wie etwa beim Don Giovanni mit der Höllenfahrt des Titelhelden.
Xavier Moreno (Edgardo), Chor
Solche Motivation für eine radikale Kürzung kennt unsere heutige Zeit nicht mehr. Dennoch nahm die das in Saarbrücken auf, wollte aber die letzte Szene mit Edgardos Arie „Tu che a dio spiegasti l’ali“ nicht opfern und stellte diese Szene an den Beginn der Oper. Damit sind Lucia und Edgardo beim Beginn der Originalhandlung also schon tot, und das Ganze kann nur noch als eine Art Retrospektive ablaufen. Die Änderung zieht aber einen Rattenschwanz von anderen dramaturgisch veranlassten Modifikationen (sprich: Schnitten) nach sich, so dass nun eine Strichfassung im Fernsehformat von eindreiviertel Stunden mit Kürzungen von deutlich über einer halben Stunde präsentiert wurde. Da muss schon bei der Ouvertüre gekürzt werden, da die Überleitung nicht mehr passt (später wird die Passage wieder eingeflickt); das erste Bild aus dem dritten Akt ist ganz gestrichen. Das ist zwar zugegebenermaßen ohnehin eine dramaturgische Verirrung des Stücks; aber mit zehn Minuten überflüssigem Cammarano verschwinden auch zehn Minuten Donizetti. Die Streichung des ersten Auftritts aus dem zweiten Akt lässt hingegen die folgende Szene zwischen Enrico und Lucia in der Luft hängen. Mit weiteren kleinen Strichen wird der Zuschauer dann im Schweinsgalopp durch die Oper getrieben.
Das in den letzten Jahren in der Oper ohnehin stark überstrapazierte Konzept der Retrospektive wird zudem nicht konsequent realisiert. Zwar wird zu diesem Zweck mit einer „kleinen Lucia“ eine stumme Figur eingeführt, die aber bald wieder verschwindet. Dafür wird aus der Alisa, deren Rolle szenisch stark aufgewertet ist und die jeweils in der gleichen Kleidung wie Lucia auftritt, eine Art Alter Ego der Titelfigur gemacht. Am Brunnen reißt Lucia ihr die Perücke vom Kopf, so dass sie kahlköpfig dasteht. Sollte sie so das Gespenst der ermordeten Urahnin darstellen? Lord Arturo Buklaw tritt als wandelnde Leiche (oder als Gevatter Tod) auf. Eine solche Gestalt hätte doch Lucia ruhig heiraten können; Arturo hätte es ohnehin nicht mehr lange getan… Aber vielleicht wollte die Regie ausdrücken, dass nicht zuletzt durch diese Nebenfigur Tod und Unglück eintreten konnten.
Yitian Luan (Lucia); James Bobby (Enrico); "drei lteWeiber"
Ben Baur, gelernter Szenograph, hat auch das Bühnenbild für die Produktion entworfen. Das ist so einfach wie wirkungsvoll. Auf dunklen, zunächst bühnenbegrenzenden Wandelementen sind Kreuze vor finster drohenden, schemenhaften Burgruinen aufgemalt. Durch Rotation der beiden konzentrischen Drehbühnen werden diese Elemente bei Szenenwechsel in immer neue Positionen gedreht und erzeugen neue geeignete Spielflächen. Im Hintergrund der ersten Szene der Oper, die ja in Wirklichkeit die letzte ist, ist hinten auf der Bühne der kerzenübersäte makabre Traualtar aufgebaut, Albtraum und Wahn der Lucia. Da der am Ende wieder auftaucht, wird hier der Bogen zu ihrem Wahn auch szenisch gespannt In Uta Meenens Kostümen spiegelt sich die Mode der Entstehungszeit von Erzählung und Oper wieder: das beginnende bürgerliche Zeitalter nach der Restauration. Als allerdings Lucia für die Zwangsehe eingekleidet wird, muss sie sich über ihr klassizistische langes weißes Gewand ein schwarzes Renaissancekostüm mit Krinoline und Stickelementen überziehen lassen; sie wird also in eine 200 Jahre zurückliegende Vergangenheit zurückversetzt. Da fragte man Frauen schon gar nicht nach ihren Wünschen. Das widerfährt spiegelgleich auch mit der Kleidung der Alisa, die aber ihren Kahlkopf behält. Die ganze Hochzeitsfeiergesellschaft ist ebenfalls in Schwarz gekleidet. Hochzeitsfeiern gehen anders.
Die Personenführung wirkt streckenweise statisch. Die ersten beiden Chorszenen (der Chor soll Jagd auf Edgardo machen) sind vergeben. Da hätte man die Jäger besser gleich zur Jagd tragen können, so undynamisch und undramatisch müde wirkte das. Ganz im Gegenteil dazu gelangen die Chorszenen im zweiten Akt; der Jubelchor wird dramatisch bewegt und wandelt sich zum Todeschor. Den Darstellern werden keine ungemütlichen Posen zugewiesen; im Gegenteil, es darf auch an der Rampe gesungen werden. Bei Lucias großem Schlussgesang (kein weißes Nachthemd mit Blutflecken) kommt als Verfremdungseffekt der Inszenierung eine Kulisse mit prächtig gemaltem, italienischem Theatervorhang herunter; davor darf Lucia im schwarzen Renaissancekostüm ihre zur Schlussarie gewordene Wahnsinnszene überwiegend im Stehen singen und kann sich ganz auf die Musik konzentrieren. Denn, wie schon gesagt, der Zweck der Umordnung ist, dass die Primadonna zuletzt produziert und den größten Beifall entgegen nehmen darf.
Yitian Luan (Lucia)
Das tat an diesem Abend auch völlig verdient die hochgewachsene chinesische Sopranistin Yitian Luan in der Titelrolle. Nach Ablegen anfänglicher Premierenanspannung, die sich in einem leichten Flackern der Stimme äußerte, lief sie im Verlauf zu großartiger Form aus. Sie war der Star des Abends mit ihren warmen Koloraturen, leuchtenden Höhen und sicherer Stimmführung; dazu treffsicher mit ihren aus den Ensembles heraus tönenden Oktav-erhöhten Spitzentönen. Aber auch die anderen Rollen waren gut besetzt. James Bobby gab den Enrico mit kraftvollem Bassbariton. In seiner Stimme hat er zwar nicht die Schwärze des Bösen, aber das konnte er mit einem etwas härteren Ausdruck gutmachen. Hiroshi Matsui fügte seinem großen Repertoire mit dem Raimondo Bidebent eine weitere Rolle hinzu, die er mit seinem bis in die Tiefe voluminös strömenden Bass überzeugend gestaltete. Xavier Moreno gab mit seinem kraftvollen Tenor einen Edgardo von fester Strahlkraft und klaren, sicheren Höhen. János Ocsovai sang mit verlässlichem Tenor die noch kleiner gewordene Rolle des Normanno. Rupprecht Braun verlieh dem leichenähnlich ausgestalteten Arturo Buklaw die passende schwankende Tenorstimme. Judith Braun gefiel mit gut fokussiertem klaren Mezzo in der hier merkwürdigen Gestalt der Alisa.
Wenige Opern verfügen über eine so dichte Folge von eingängiger Melodik wie die Lucia. Einfachheit, Emotion und Inspiration; man hat das gerade einmal gehört, und schon kommt es einem bekannt vor. Das Saarländische Staatsorchester musizierte die Partitur unter der Leitung von Araldo Salmieri ohne Fehl und Tadel. Allerdings wirkten die Tutti-Passagen des Orchesters recht holzschnittartig und waren teilweise sehr laut. Salmieri ließ es teilweise ordentlich krachen, vor allem im Kontext mit Enrico und dem Chor. Da gaben Becken und Pauken den Ton an. Dazu kontrastierten aber (zu Lucia) feine Passagen. Die viel gesetzten Hörner zeigten schöne piano-Kultur; nuancierte Färbungen der Holzbläser, teilweise solistisch eingesetzt, wirkten im emotionalen Bereich mit. Auch die Harfe spielte schöne Solo-Passagen und duettierte fein mit Horn oder Flöte. Dorothee Strey, die das Flötensolo zur Wahnsinnsarie spielte, wurde vom Dirigenten auf die Bühne gerufen. Den großen klangschönen Opernchor hatte Jaume Miranda einstudiert.
Es versteht sich von selbst, dass der Regisseur das Werk kennt. Die meisten Zuschauer werden die Oper schon gesehen haben. Aber einige sehen sie immer zum ersten Mal. In diesem Falle haben sie etwas gesehen, was sie nun für die Lucia di Lammermoor halten. Das Publikum dieses Premierenabends war aber äußerst zufrieden mit dem Gesehenen: davon zeugte eine Viertelstunde begeisterten Beifalls aus dem vollen Haus. Die Lucia kommt wieder am 10., 16. 19., 21., 25. und 30. Oktober und dann noch weitere sechs Mal bis zum 01.04.15.
Manfred Langer, 05.10.14
Fotos: Björn Hickmann