Salzburg: „Der Spieler“, Sergej Prokofjew

Glücksspiel mit dem Leben

Als zweite große Neuinszenierung bei den Salzburger Festspielen 2024, die ebenfalls auf einem Roman von Fjodor Dostojewski beruht, brachte man nach Der Idiot von M. Weinberg die Oper Der Spieler von Sergei Sergejewitsch Prokofjew heraus. Er komponierte die vieraktige Oper von 1915-1917. Wegen der russischen Revolution fand die Uraufführung, nach einer Revision durch den Komponisten 1927/28, aber erst 1929 am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel statt, in einer französischen Übersetzung.

© Ruth Walz

Angesichts einer gewissen Enttäuschung des übrigen szenischen Opernprogamms dieser Salzburger Festspiel-Saison wurden gerade diese beiden, auf russischen Quellen basierenden Stücke, zu den interessantesten und auch vom Publikum am besten angenommenen Produktionen. Der US-Amerikaner und Altmeister Peter Sellars, der Salzburg schon legendäre und gute Inszenierungen geliefert hat – man denke nur an Saint François d’Assise von Olivier Messiaen – inszenierte den Spieler mit dramaturgischer Unterstützung von Antonio Cuenca Ruiz im Bühnenbild von George Tsypin, mit dem er seit langem zusammenarbeitet und der auch den imposanten ossetischen und mythisch konzipierten Ring des Nibelungen 2003 in St. Petersburg ausstattete. Camille Assaf war für die meist gut zur allgemeinen Optik passenden Kostüme und James F. Ingalls für das immer wieder sehr phantasievolle Licht verantwortlich. Dieses fängt die für ein Spiel-Casino typische bunt-grelle Glitter-Atmosphäre gerade im letzten Drittel des Stücks eindrucksvoll und nachvollziehbar ein, wo es um die wahnsinnige Gewinnsträhne des Spielers Alexej Iwanowitsch mit zwanzigmaligem Setzen auf Rot geht – welches auch tatsächlich kommt!

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In der fiktiven Stadt Roulettenburg hängen am Schnürboden sieben unterschiedlich große Roulette-Kessel, die, immer wenn es um das Spielen selbst geht, auf den Boden herunterkommen und dann in den typischen Casino-Farben bunt ausgeleuchtet werden. Manchmal wirken sie – wohl eher ungewollt – wie Ufos, auch nach unten Lichtstrahlen aussendend. Dort liegt ein grüner Teppichboden, gemäß dem bei Prokofjew erwähnten „Park eines großen Hotels in Roulettenburg“. So gelingt es Sellars und seinem Team immerhin, die ganze weite Bühne der Felsenreitschule mit einer ständig von oben wie Damoklesschwerter durch Roulette-Kessel drohenden Gefahr auszuspielen, welche die zum Verderben und Untergang führende Spielsucht wachhalten, die ja auch Dostojewski befallen hatte.

In den ersten drei Akten werden auf der Bühne darunter die Probleme einer sich verzweifelt um die Aufrechterhaltung eines wahnhaften Lebensstils sorgende „arrivierte“ Gesellschaft um den General a.D. verhandelt, der nie ein solcher war, aber im Auftrag der Regierung stand und erhebliche Summen veruntreute, sowie den ihm ständig mit Geldforderungen auf der Pelle sitzenden Marquis, der wiederum nie ein Marquis war und nicht einmal Franzose ist, ihn damals aber finanziell vor dem Gefängnis rettete. Der General umgibt sich mit der attraktiven, aber äußerst zweifelhaften Dame der Gesellschaft, Blanche, die schon einmal in Roulettenburg verhaftet wurde und nun mit neuer Identität als Komplizin des Marquis zurückgekehrt ist. Eine zwielichtige Gesellschaft also, die – unnötigerweise – ständig mit Handys hantiert, um das endgültige Mail zu erhalten, dass die vermögende Großmutter des Generals, Antonida Wassiljewna Tarassewitschewa, genannt Babulenka, endlich das Zeitliche gesegnet hat und ihr Erbe das Weiterkommen ermöglicht.

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Peixin Chen gibt den völlig verunsicherten General mit einem guten Bass, wird allerdings von der Regie etwas zu albern dargestellt, denn er muss mehrmals vor Schreck umständlich zu Boden gehen. Juan Francisco Gatell ist ein darstellerisch intensiver Marquis mit einem prägnanten und kraftvollen Tenor. Nicole Chirka gibt eine bestens zum Rollenprofil passende Blanche, während der reiche Engländer Mr. Astley, von Michael Arivony gespielt, vokal eher reduziert in Erscheinung tritt. Mitten in die allgemeine Ratlosigkeit platzt sodann die Babulenka herein, die von Violeta Urmana umwerfend gespielt und gesungen wird. Wie eine Claire Zachanassian im Besuch der alten Dame von Dürrenmatt kommt sie in das Geschehen unter den Roulette-Kesseln, im Rollstuhl sitzend, aber quietschfidel und damit den erhofften Reichtum in weite Ferne rücken lassend. Mit ihrem Abgang verkündet sie sogar noch, dass der General keinen Cent von ihr erben werde, verzockt dann aber ihren ganzen Reichtum selbst und kommt später noch einmal als völlig gebrochene alte Frau auf die Bühne – ein beeindruckendes Nebenschicksal.

Denn das Hauptthema ist hier das Schicksal des Spielers Alexej Iwanowitsch, des Hauslehrers der Kinder des Generals, der Polina, dessen Stieftochter, in Liebe verfallen ist, die aber gleichzeitig wohl eher materialistisch bedingte Beziehungen zum Marquis und Mr. Astley unterhält. Diese sind durchaus uneindeutig, ja ambivalent, weil auch Polina nicht recht weiß, wo sie steht und was sie im Leben eigentlich will. Diese beiden, insbesondere der Spieler Alexej, der hier sensationell von Sean Panikkar verkörpert wird, stehen gegen das sie umgebende Establishment als revoltierende junge Leute, die aber auch nicht recht wissen, wie man zu einer Lösung und einem besseren Leben kommen könnte. So bleibt am Ende das Spiel, das Roulette. Dramaturgisch allzu plakativer und letztlich hilfloser Ausdruck ihres Gesellschaftsprotests ist die Szene mit dem Baron Würmerhelm (Ilia Kazakov), dessen Anzug Alexej, auch um Polina zu gefallen, mit oranger Farbe bepinselt. Das hätte man auch anders machen können.

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Peter Sellars zeigt aber, bevor es im letzten Drittel des Stücks zu der Spieler-Ektase kommt, eine subtiles Wechselspiel zwischen Polina und ihre beiden Freiern, oft nur im Halbdunkel auf der Hinterbühne, weshalb wohl bei einem Teil der Kritik der Eindruck entstand, dass Asmik Grigorian, die Polina nicht nur beeindruckend spielt, sondern auch bravourös mit vielen charakterlichen Facetten ihres klangvollen Soprans singt, „unterinszeniert“ sei oder gar „angeklebt“. Dabei sollte man bedenken, dass Polina gar nicht so häufig direkt in das Geschehen involviert ist, oft auch ganz von der Bühne verschwindet. Der Marquis scheint fast mehr zu singen als sie. Aufgrund der großen Bühnenpräsenz der Grigorian ließ Sellars sie aber dennoch die meiste Zeit präsent sein, eben weil sie auch ohne direktes Handeln – ähnlich wie Ortrud im 1. Akt von Wagners Lohengrin – dramaturgisch enorm präsent ist und somit die Dramatik der Handlung indirekt erhöht. Das war mit einer guten Personenregie insbesondere am zweiten Abend zu bemerken, da man sich hier schon mehr dem Beobachten von Einzelheiten auf der Hinterbühne widmen konnte. Sean Panikkar mit seiner ununterbrochenen Handlungsenergie und vokalem Einsatz an der tenoralen Grenze, die er aber nie überschritt, sowie Asmik Grigorian mit einer dazu fast komplementären Ruhe und oft trübsinnigen In-Sich-Gekehrtheit, waren die Triebkräfte dieses Spieler von S. Prokofjew auf der großen Bühne der Felsenreitschule!

Als es dann auch in der Musik immer dynamischer wird und die Spielszene beginnt, lässt Sellars sehr viele bunte und zum Teil phantasievoll choreografierte Menschen auf die Bühne strömen, fast wie eine Horde Neugieriger, die nun sehen will, wie der Spieler es macht und ihn auch laufend bewundert. Auf einmal wird die ganze Bühne in der Tat zu einem Casino! Eine große Zahl an Nebenrollen tritt in Erscheinung, wobei besonders schneidend und eindrucksvoll die ständigen Rufe der knallrot verrückt gekleideten Croupiers „Faites vos jeux“, „Les jeux son faits“ und „Rien ne va plus“ erklingen. Das erzeugt eine ungeheure Dynamik mit der Musik aus dem Graben und treibt die Orgie nach dem schnellen Geld voran, die ja durchaus zeitgemäß ist und damit auch die Relevanz des Stücks in unserer heutigen Zeit unterstreicht, von der der Regisseur im Übrigen sehr überzeugt ist.

© Ruth Walz

Trotz allen Glücks im Spiel mit einem Gewinn von 200.000US$ und einer gesprengten Bank zerbricht letztlich Alexejs Liebe zu Polina auch am Geld. Sie entscheidet sich schließlich für Mr. Astley, zumindest vorläufig. Es ist ein tragisches Finale, das Peter Sellars da auf die Bühne bringt, in dem er Alexej vereinsamt zurücklässt und damit klarmacht, dass das Spiel eben keine Erfüllung noch so hehrer Wünsche schaffen kann, und wenn, dann nur in Ausnahmefällen echten temporalen Glücks. So gelingt Sellars die beabsichtigte „Tragödie individueller und kollektiver Blindheit“.

Neben den großartigen Sängern sorgte auch die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor unter Pawel Markovicz für dramatisch packende und stimmlich eindrucksvolle Momente im schließlich immer rasanter werdenden Geschehen, welches sich direkt aus der Partitur Prokofjews speist. So explodiert die Schlussszene mit einer sich scheinbar um sich selbst drehenden, immer schneller werdenden Rhythmik wie das Rotieren der Kugel im Roulette-Kessel in nahezu wagnerianischer Transzendenz, wie Sellars findet, die aber Wagner mit ihren erschütternden, wogenden Akkorden an emotionaler und harmonischer Dichte noch übertrifft. Timur Zangiev gelang es mit dem Wiener Philharmonikern mitreißend, diese Intensität der Musik des Spieler auf ebenso sublime wie dramatische Art und Weise zu interpretieren und zwischen Bühnengeschehen und Orchester eine Einheit zu bilden. Zangiev wurde damit vielleicht zu  d e r  Entdeckung der Salzburger Festspiele 2024 am Dirigentenpult.

Klaus Billand, 23. August 2024


Der Spieler
Sergei S. Prokofjew

Felsenreitschule
Salzburger Festspiele

Besuchte Vorstellung: Premiere 12. August und 1. Reprise 17. August 2024

Inszenierung: Peter Sellars
Musikalische Leitung:
Timur Zangiev
Wiener Philharmoniker

Direkt-Kritik des Autors nach der Aufführung im Video-Podcast:

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