Am Nachmittag des 30.8. erlebten wir Marlis Petersen und Camillo Radicke mit Liedern von Schubert, Schumann und Strauss, die sich vor allem um Blumen und im Mittelteil unter dem Motto „Kleine Pastorale“ um Sennerinnen und Schäfer drehten. Da durfte natürlich der beliebte „Hirt auf dem Felsen“ nicht fehlen; dazu kam Paul Meyer auf die Bühne des akustisch für Liederabende und Kammermusik einmaligen Angelika-Kaufmann-Saals und servierte wunderbar geschmeidige Kantilenen auf seiner Klarinette. Nicht nur im virtuosen, den Beifall des Publikums zwangsläufig provozierenden Schlussteil, sondern auch im elegischen Mittelteil korrespondierten Sopranistin und Klarinette aufs Feinste miteinander. Und das gelang, obwohl die Sängerin hier wie überhaupt im ganzen ersten Teil des Konzerts etwas verkrampft wirkte. Das mag auch daran gelegen haben, dass sie allzu sehr an den Noten klebte. Besonders störte die sonst so kluge Gestaltung der Lieder das ständige, hörbare Atemholen; das gilt auch für das wiederholte, nervöse Haare-aus-dem-Gesicht-Streifen. Einige technische Nachlässigkeiten äußerten sich z.B. in leichten Unsauberkeiten bei den vermeintlich unwichtigen Tönen. Bei Strauss‘ Blumenliedern im 2.Teil wirkte Marlis Petersen wie ausgewechselt und geradezu gelöst, nachdem sie nach den ersten beiden Liedern das Notenpult demonstrativ zur Seite gestellt hatte. Bravourös meisterte sie schwierigste Intervall-Sprünge à la Zerbinetta und andere sängerische Finessen; jetzt kam auch das zur Geltung, womit die als Lulu oder Violetta gefeierte Sopranistin überall so begeistert, ihre leuchtenden Höhen. Zur insgesamt angemessenen Ausdeutung der Lieder trug auch der sensibel und mitfühlend spielende Pianist bei, der in den starken Beifall des Publikums einbezogen wurde. (GE)
Mit einem reinen Schubert-Programm glänzten Michael Volle und Helmut Deutsch am 1.9. nachmittags. Vier klug ausgewählte Lieder nach Gedichten von Friedrich von Schiller als Einstieg klärten gleich, dass die große Bassbariton-Stimme durch den Hans Sachs in Bayreuth noch vor einer Woche für den Liedgesang nicht beeinträchtigt war; mit „Gruppe aus dem Tartarus“ loteten beide Künstler die ganze Bandbreite der Tongebung differenziert und mit stufenweise ansteigender Entwicklung aus. Unter vier Liedern nach Texten von Johann Mayrhofer ragte „Uraniens Flucht“ nicht nur wegen seiner Länge (27 Strophen, ca. 18 Min.) heraus: Da wurde die Götterwelt der Mythologie mit breiter Farbpalette als große Opernszene deutlich charakterisiert und absolut textverständlich dargebracht. Mit solchen Raritäten wird das Publikum an normalen Liederabenden meist nicht konfrontiert, so etwas gibt es eben (fast) nur bei der Schubertiade. Nach der Pause stand eine Gruppe „Wasser- oder Schifferlieder“ an, darunter das köstliche, das Fischergewerbe besingende „Fischerlied“, der „Schiffer“, bei dem Helmut Deutsch den Kahn ordentlich ächzen ließ, und „Der Strom“ mit durchgängiger Wellenbewegung, vom Pianisten dynamisch raffiniert phrasiert. Mit vier italienischen Gesängen, in denen Volle nicht nur zeigte, dass er auch elegante Verzierungen beherrscht („L’incanto degli occhi“), sondern auch sein darstellerisches Talent noch einmal unter Beweis stellen konnte („Il modo di prender moglie“), endete der eindrucksvolle Lieder-Nachmittag. (ME)
Am Abend gab es ein Kammerkonzert mit Weltklasse-Niveau: Das Belcea Quartet (Corina Belcea, Axel Schacher, Krysztof Chorzelski, Antoine Lederlin), derzeit „Ensemble in Residence“ im Pierre-Boulez-Saal in Berlin, hält sich schon längere Zeit in der ersten Reihe der Streichquartette weltweit. Es bewies seine Klasse zunächst mit einer packenden Interpretation von Schuberts düsterem d-Moll-Quartett D 810 „Der Tod und das Mädchen“. Im besonders dunklen 1.Satz betonte das seit 2011 in der genannten Besetzung spielende Ensemble die beruhigenden Aufhellungen, um anschließend den berühmten Variationssatz mit dem Lied-Thema mit großen dynamischen Gegensätzen auszudeuten. Über das Totentanz-ähnliche Scherzo mit dem versöhnlichen Trio ging es in das rasend schnelle Schluss-Presto mit furios gespieltem Finale. Nach der Pause kam der Cellist Jean-Guihen Queras hinzu, um mit dem Belcea Quartet das ausgedehnte Streichquintett C-Dur D 956 zu musizieren. Im Eingangs-Allegro wurden die wunderschönen Kantilenen mal von den beiden Geigen, mal von Bratsche und Cello I oder auch von beiden Celli, jeweils von den anderen delikat begleitet, genüsslich ausgekostet. Das Zentrum des Quintetts, das Adagio, erhielt durch die Musiker mit unglaublich leise beginnenden dynamischen Steigerungen und geradezu ins Nichts zurückgehenden Abschwüngen eine selten zu erlebende Intensität. Dass sich hierbei das wie selbstverständlich perfekte Zusammenspiel zeigte, sollte man ebenso erwähnen wie die technische Brillanz, über die alle verfügen. Auf das mit hoher Virtuosität dargebotene Scherzo folgte das fast fröhliche Finale mit einem fulminant servierten Schluss, der den jubelnden Beifall des enthusiasmierten Publikums herausforderte. Nebenbei sei noch bemerkt, dass die digitale Welt nun auch die Konzertpodien erreicht hat: Alle hatten anstelle der Papiernoten ein kaum merkbar zu bedienendes Tablet auf ihren Pulten. (GE)
Am Abend des 2.9. gab es den für uns in diesem Jahr die Schubertiade abschließenden Liederabend mit Julia Kleiter und Christoph Prégardien, die gemeinsam mit Michael Gees am Klavier das „Italienische Liederbuch“ von Hugo Wolf aufführten. Und wie sie dies taten! Sie beschränkten sich nicht darauf, die vielen kostbaren Musik-Miniaturen nur zu singen, sondern sie machten die Inhalte durch kleine szenische Andeutungen, besonders in der Mimik deutlich – auch und gerade dann, wenn die andere oder der andere sang. Von ersten gegenseitigen Liebeserklärungen ging es über nicht durchweg ernst gemeinten Streit („Ich hab‘ in Penna einen Liebsten wohnen“) bis zur anrührenden Versöhnung („Nun lass uns Frieden schließen, geliebtes Leben“). Das wurde in allen Teilen, den witzigen und nicht wenigen ernsten so überzeugend ausgespielt und so glaubhaft musikalisch gestaltet, dass man fast hätte annehmen können, es steht ein echtes Liebespaar auf der Bühne, wenn man nicht wüsste, dass es sich bei den beiden Künstlern um Nichte und Onkel handelt. Für beide gilt, dass sie mit perfekter Textverständlichkeit ihre ausgeprägte Gesangstechnik stets in den Dienst der Gestaltung stellten, die Sängerin mit ihrem ausdrucksvollen, in den höheren Lagen schön aufblühenden Sopran und der Sänger mit seinem prägnanten, in allen Lagen ausgeglichenen Tenor. Er gefiel besonders in den lyrischen Passagen, während die dramatischen Höhen nicht mehr ganz mühelos gelangen. Das „Italienische Liederbuch“, dem im Titel eigentlich „…der Liebe“ hinzugefügt werden müsste, wirkte auch deshalb so überzeugend, weil der Pianist ebenbürtiger Partner bei der erfolgreichen Ausdeutung war. Das Publikum war begeistert und bekam zwei Duette als Zugaben, Schumanns „Er und Sie“ und Schuberts „Licht und Liebe“. (GE)
Für alle, denen die vielen Liederabende nicht reichten, gab es vom 31.8. bis 1.9. an jedem Vormittag die Möglichkeit, einen Meisterkurs zu begleiten, der am 2.9. mit einem Abschlusskonzert endete, bei dem man sich davon überzeugen konnte, dass an guten Nachwuchssängern kein Mangel ist. Thomas Quasthoff und Justus Zeyen berieten junge Sänger mit ihren Pianisten über die Tage, wobei sie nicht in deren Technik eingreifen wollten („…dafür ist die Zeit viel zu kurz“), sondern darauf Wert legten, „mehr Emotionen rauszulassen“: „Ich muss in Ihren Gesichtern lesen können, was Sie singen“ (Quasthoff). Quasthoff und Zeyen gaben sich unendlich viel Mühe mit den Einzelnen, um aus jedem das Beste heraus zu holen; teils behutsam, teils sehr direkt wurde immer wieder auf grundlegende Nachlässigkeiten wie z.B. schlechte Haltung, zu starkes Vibrato oder unausgeglichene Vokale hingewiesen, wobei beide Professoren immer darauf achteten, zum Ausgleich durch Scherze und viel Lob ein gutes Arbeitsklima zu schaffen. Sechs Duos hatten sich angemeldet, eines fuhr nach dem ersten Tag ab, da es den Anforderungen einer Meisterklasse doch noch nicht gewachsen war. Die anderen fünf Paarungen arbeiteten hoch konzentriert, so dass man als passiver Teilnehmer des Kurses tatsächlich zum Abschlusskonzert eine deutliche Verbesserung der jeweiligen Schwächen feststellen konnte. Dabei waren bei den Sängern außer Deutschland Spanien, USA und China vertreten, bei den Pianisten Polen und die USA. Falls Deutsch zur Verständigung nicht ausreichte, ging man nahtlos ins Englische über. Besonders eindrucksvoll waren die Unterschiede, die bei den Begleitern heraus gearbeitet wurden; da merkte man erst, wie wichtig und absolut ebenbürtig der Pianist gegenüber dem Sänger sein muss, um ihn zu tragen und schon mit den einleitenden Takten auf den richtigen Weg zu bringen, nicht nur im Tempo, sondern auch in Bezug auf die geistige Vorbereitung für die musikalische Gestaltung des Textes. Wenn eine Übereinstimmung beider nicht erreicht ist, kann es sonst passieren, dass divergierende Tempi, nicht passende Phrasierungen oder Agogik den Fluss eines Liedes total zerstören.
Fidelus/Ware/Walsh/Fischer/Zhang/Merk/Pertz/Gómez Ruiz/Rollinson
Im Abschlusskonzert gelangen Julia Katherine Walsh (Sopran) und Clarin Merk „Wanderers Nachtlied II“ am besten, Manuel Gómez Ruiz (Tenor) und Jonathan Ware „Der Musensohn“ sowie Nina-Maria Fischer (Sopran) mit demselben Pianisten „Die junge Nonne“. Ein Versprechen für die Zukunft waren der blutjunge Bassist Gabriel Rollinson und Elenora Pertz mit Brahms‘ „Sapphischer Ode“; die ausgereifteste Leistung boten die Mezzosopranistin Yajie Zhang und Piotr Fidelus mit dem eindrucksvollen „Der Tod und das Mädchen“ sowie Mahlers „Urlicht“. Nach starkem Applaus bedankten sich alle Kursteilnehmer bei ihren Lehrern mit der als Überraschung einstudierten „Nachtigall“ aus Brahms‘ Liebeslieder-Walzern. Es war eine spannende Woche, in der die vielen Zuhörer gern auch ein paar Sonnenstunden drangaben. (ME)
Marion und Gerhard Eckels, 4. September 2017
Fotos: Schubertiade