Dresden: „Die Passagierin“

Premiere: 24.6.2017

Überzeugende stilistische Gratwanderung

Zu einem Opernereignis der Sonderklasse geriet die Premiere von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ an der Dresdner Semperoper. Das war wahrlich ein atemberaubender, geradezu preisverdächtiger Abend, der noch lange in Erinnerung bleiben und in die Annalen dieses renommierten Hauses eingehen wird. Dabei ist die Inszenierung von Anselm Weber in dem Bühnenbild von Katja Haß und den Kostümen von Bettina Walter eine alte Bekannte. Hier haben wir es mit einer Übernahme der genialen Frankfurter Produktion aus dem Jahre 2015 zu tun, die vergangenes Jahr auch bei den Wiener Festwochen zu sehen war. Die szenische Einstudierung besorgte Corinna Tetzel. Ihr ist das Kunststück gelungen, den Sängern einerseits das Konzept des Regisseurs genau zu vermitteln. Andererseits ließ sie ihnen genügend Spielraum zur eigenen Entfaltung. Das Ergebnis waren sehr interessante Rollengestaltungen. Insgesamt hat die Dresdner Aufführung diejenige in Frankfurt sogar noch übertroffen. Bravo!

Hier DresdenPassagierin01a – Barbara Dobrzanska (Marta)

Der Eindruck war wieder einmal gewaltig. Aus dieser Oper geht man anders heraus als bei sonstigen Stücken des Musiktheaters. Man ist in höchstem Maße ergriffen, berührt und sogar beklommen. Die „Passagierin“ erschließt sich dem Zuhörer auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die er zunächst kaum spürt, die ihn aber dann um so mehr in ihren Bann zieht. Weinberg hat das Werk bereits im Jahr 1968 vollendet. Indes war es ihm nie vergönnt, es auf der Bühne zu erleben. In der UdSSR durfte die „Passagierin“ aus ideologischen Gründen lange nicht aufgeführt werden. Erstmals wurde sie dort im Jahre 2006 in konzertanter Form zu Gehör gebracht. 2010 folgte die sensationelle szenische Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen in der Regie von David Pountney. Im Jahre 2013 kam es zur erfolgreichen deutschen Erstaufführung am Badischen Staatstheater Karlsruhe. In Frankfurt ging das Stück im Jahre 2015 über die Bühne. Im Februar 2017 folgte eine beachtliche Produktion am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Auch in Russland steht man dem Werk jetzt aufgeschlossener gegenüber: In jüngster Zeit gab es gelungene Inszenierungen in Ekaterinburg und Moskau.

Jürgen Müller (Walter), Christina Bock (Lisa), Barbara Dobrzanska (Marta)

Die „Passagierin“ des jüdisch-polnischen Komponisten Weinberg beruht auf dem gleichnamigen Roman von Zofia Posmysz, in dem diese ihre Erlebnisse als Häftling von Auschwitz schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch die Verdrängungsmentalität im Nachkriegsdeutschland aufwirft. An diesem Abend saß die inzwischen 94jährige Dame im Publikum und verfolgte ergriffen das Geschehen auf der Bühne. Weinberg musste bereits in jungen Jahren vor der in Polen einmarschierenden deutschen Armee in die UdSSR fliehen. Die restliche Zeit seines bis 1996 währenden Lebens verbrachte er dort im Exil. In seiner „Passagierin“ greift er das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Weinberg und sein Librettist Medwedjew behielten die Grundstruktur von Frau Posmysz’ Roman in ihrem Werk bei. Nur wenige kleine Änderungen haben sie vorgenommen, um einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen. Es ist eine regelrecht erschütternde Handlung, die sich vor den Augen des Auditoriums abspielt und bei der die Choristen gleich einem antiken griechischen Chor nicht am Geschehen selbst teilnehmen, sondern weise und allwissend das Augenmerk des Publikums auf den vom Schicksal bestimmten Kern des Dramas lenken. Mit dieser Oper hält Weinberg den Besuchern gleichsam den Spiegel vor. Seine „Passagierin“ stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln des Musiktheaters. Weinberg, der seine ganze Familie in den Konzentrationslagern der Nazis verlor, und Zofia Posmysz beleuchten nachdrücklich die unsäglichen, menschenverachtenden Gräuel, die die Deutschen unter dem NS-Regime an anderen Menschen verübt haben, und gemahnen Deutschland an seine Verantwortung vor der Geschichte.

Christina Bock (Lisa), Barbara Dobrzanska (Marta), Statisterie

Der auf einer erweiterten Tonalität fußenden Musik kann man sich nur schwer entziehen. Sie ist sehr expressiv und geradezu überwältigend. Weinberg wartet mit einer vielschichtigen, komplexen Klangsprache auf, die zu dem dramatischen Geschehen auf der Bühne ein treffliches Pendant darstellt. Mit ungemein spröden und harten Klängen werden die physische und psychische Gewalt in Auschwitz geschildert. Dem Ohr erschließt sich eine enorm effektive, hinreißende Musik, deren äußerer Mantel den Werken von Weinbergs großem Freund und Mentor Schostakowitsch nicht unähnlich ist. Geprägt wird sie darüber hinaus von einer ausgeprägten Leitmotivtechnik nach dem Vorbild Richard Wagners. Sie erreicht den Zuhörer nicht direkt, sondern auf einer verhaltenen Metaebene. Durch den Umweg über das Unterbewusste bekommt sie eine noch tiefergehende Wirkung und weist Weinberg neben Wagner die Funktion eines Psychologen unter den Komponisten zu. Ins Auge springen zudem einige Anleihen von anderen bedeutenden Komponisten. Neben Schostakowitsch werden auch Klänge von Schubert (Militärmarsch in D-Dur), Wagner (Prügel-Motiv aus den „Meistersingern“), Mahler oder Britten offenkundig.

Markus Butter (Tadeusz), Barbara Dobrzanska (Marta)

Enorm wichtig für das Ganze sind in vorderster Linie zwei Zitate: Im ersten Aufzug zersetzt Weinberg nach allen Regeln der Kunst das Schicksals-Motiv aus der Fünften Symphonie von Ludwig van Beethoven und lässt es zu einer hässlichen musikalischen Fratze ausarten. Im „Konzert“-Bild des zweiten Aktes bringt der Geiger Tadeusz dem angetretenen KZ-Personal anstelle des vom Kommandanten gewünschten banalen Walzers Bachs berühmte Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-moll zu Gehör. Dieses Zitat aus einem der berühmtesten Werke der menschlichen Kultur, das der jüdische Violinist hier angesichts des Todes so mutig vor den Ohren der deutschen SS-Schergen ausbreitet, stellt die geistige Essenz der Oper dar. „Was ist nur aus Deutschland, dem Land der Dichter und Denker geworden“, meint man Weinbergs entsetzten Aufschrei zu vernehmen. „Früher prägten Größen wie Beethoven und Bach, Goethe und Schiller sein Gesicht. Und nun ist es, dem großartigen geistigen Erbe zum Trotz, zum Land des unmenschlichen Massenmords geworden“. Mit Macht haut Tadeusz den bornierten braunen Machthabern die Sünden wider die eigene Kultur um die Ohren. Genauso verfährt Weinberg. Schmerzhaft und unerbittlich rammt er das scharf geschliffene musikalische Seziermesser in die abscheuliche, niederträchtige Missachtung der in Jahrhunderten gewachsenen Werte und Schätze der deutschen Kultur und lässt es tief in der klaffenden Wunde stecken. Damit wird schonungslos der kulturelle und moralische Niedergang aufgezeigt, den Deutschland durch das verbrecherische Hitler-Regime erfahren hat, Das ist der krasse Subtext des Bildes. Auf diese Szene läuft das gesamte Stück hinaus, sie bildet den Kern des ganzen Werkes. Tadeusz beschränkt sich aber nicht nur darauf, die Nazi-Verbrecher wegen der von ihnen über die deutsche Kunst und Kultur gebrachten Schande zu brandmarken. Sein Zitat der Bach’schen Chaconne ist ein großartiger, wenngleich vergeblicher Appell an das grausame NS-Regime zur Rückbesinnung auf die Werte der Menschlichkeit: Das Erbe von Bach als leidenschaftliches Plädoyer für Humanität. Die große Erhabenheit dieses Gipfelpunktes der „Passagierin“ lässt sich eigentlich gar nicht in Worte fassen.

Weinbergs herrliche Musik war bei Christoph Gedschold und der Sächsischen Staatskapelle Dresden in besten Händen. Der Dirigent, der das Werk bereits in Karlsruhe, Frankfurt und Wien leitete, bewies ein untrügliches Gespür für den ganzen musikalischen Reichtum der prachtvollen Partitur. Gegenüber früher ist sein prägnantes Dirigat noch fulminanter und dramatischer geworden, weist aber immer noch auch feine kammermusikalische Momente auf. Und im Herausarbeiten von differenzierten Farben und eindringlichen Kontrasten erwies er sich als wahrer Meister.

Markus Butter (Tadeusz), Christina Bock (Lisa)

Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa – die historische Anneliese Franz -, die im Jahr 1960 auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Aufseherin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut, sie aber am Ende doch in den Todesblock schickt. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem entsetzten Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: „Jetzt mögen andere sprechen!“. Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd in Auschwitz und auf dem Dampfer ab.

Christina Bock (Lisa), Jürgen Müller (Walter), Sächsischer Staatsopernchor

Man weiß nicht, wie Marta mit dem Leben davongekommen ist. Daraus machen sowohl Weinberg als auch Frau Posmysz ein großes Geheimnis. Im Epilog sitzt sie an ihrem Heimatfluss in Polen und lässt ihre schlimmen Erinnerungen Revue passieren. Dieses Bild bildet auch den konzeptionellen Ausgangspunkt von Anselm Webers gelungener Inszenierung. Marta steht bei ihm sowohl am Anfang als auch am Ende. Zu Beginn schreibt sie in großen Lettern die Worte „Ich lebe, du lebst, sie lebt“ in allen möglichen Sprachen in die Luft. Das, was sie geschrieben hat, wird sodann sichtbar an die Rückwand projiziert. Dieses Bild erinnert ein wenig an Yvettes Französisch-Stunde im zweiten Akt. Der tiefere Sinn dieses Regieeinfalles besteht darin, aufzuzeigen, wieviele unterschiedliche Nationalitäten in Auschwitz inhaftiert waren. Auch im Folgenden werden von Weber immer wieder Projektionen eingesetzt. Wenn Walter angesichts des Geständnisses seiner Frau entsetzt die zu erwartenden vernichtenden Zeitungsberichte visualisiert, erscheinen diese in mehreren Sprachen an der Hinterwand, nur um gleich darauf in sich zusammenzufallen. Der Vorgang wiederholt sich später. Am Ende des ersten Aufzuges werden die Namen zahlreicher Auschwitz-Opfer auf den Vorhang projiziert.

Hannelore Koch (Kapo), Barbara Dobrzanska (Marta), Christina Bock (Lisa)

Insgesamt ist es dem Regisseur um eine Mischung aus realistischen und abstrakten Elementen zu tun. Zudem ist seine Regiearbeit auch psychologisch angehaucht. Die stilistische Gratwanderung, die er vollführt, ist vollauf überzeugend. Das Geschehen wird aus der Perspektive Lisas heraus interpretiert, die offensichtlich unter einer ausgemachten Psychose leidet und vergeblich versucht, die schlimme Vergangenheit zu verdrängen. Katja Haß hat für das Bühnenbild eine praktikable, einleuchtende Lösung gefunden: Die Bühne wird von einem riesigen Kubus eingenommen, dessen Außenseite das Schiff mit den zu den verschiedenen Decks führenden Eisentreppen darstellt. Immer wieder erscheinen KZ-Häftlinge in den Türen. Wenn sich der Kubus dreht, erblickt man auf seiner Innenseite Auschwitz, dessen Rückwand von einem riesigen Tor gebildet wird. Dort sitzen die teils glatzköpfigen, teils mit Kopftüchern versehenen Frauen in von Bettina Walter geschaffenen karierten Häftlingsanzügen mit roten Winkeln und in Decken gehüllt an der Wand. Sobald ein SS-Mann oder eine Wärterin den Raum betreten, springen sie rasch auf, formieren sich in der Raummitte und nehmen Haltung an. Gekonnt werden von der Regie unterschiedliche Zeit- und Raumebenen miteinander verzahnt. Die Konturen des Dampfers und von Auschwitz sind fließend, was insbesondere dann deutlich wird, wenn Walter immer wieder mit einer Pfeife oder einem Buch bewaffnet auch im KZ-Bereich umhergeht, das Entsetzliche, das ihn umgibt, dabei aber gar nicht wahrzunehmen scheint. Auch Lisa pendelt oftmals zwischen Außenbereich (Schiff) und Innenbereich (Auschwitz) hin und her. Diese Verschränkung der Ebenen ist psychologisch einleuchtend. In dem Maße, wie Lisa sich immer mehr von ihrer Vergangenheit als KZ-Wärterin eingeholt sieht, wird Walter zunehmend in die Welt von Auschwitz hineingezogen. Hier bieten sich dem Auge ungemein starke Eindrücke. Ihren Höhepunkt erreicht Webers Regiearbeit gegen Ende beim Ball auf dem Schiff: Es gehört zu den eindringlichsten Momenten der Inszenierung, wenn Marta nach dem Tanz auf Lisa zugeht und sich unvermittelt die Perücke herunterreißt und ihr glatzköpfiges Haupt zur Schau stellt. Während Lisa ohnmächtig zusammenbricht, beginnen nun auch die anderen Ballgäste ihre eleganten Kleider und Anzüge abzulegen. Sie platzieren diese sauber auf einen Haufen und legen zum „Konzert“-Bild Häftlingskleider an. Das Schiff ist unvermittelt zu Auschwitz mutiert. Während sich Lisa in ihrem Ballkleid an den rechten Bühnenrand kauert, sucht Walter das Weite. Er kann an diesem schrecklichen Ort nicht bleiben. Bevor er die Bach-Chaconne spielt, küsst Tadeusz Marta noch einmal. Das war alles sehr überzeugend und mit Hilfe einer eindringlichen Personenregie auch erstklassig umgesetzt.

Jürgen Müller (Walter), Christina Bock (Lisa), Statisterie

Auch gesanglich konnte man voll zufrieden sein. Christina Bock war eine sehr schön anzusehende Lisa. Durch das ungemein gute Aussehen der Sängerin wurde die Fallhöhe der Figur noch stärker. Gesungen hat sie mit gut fokussiertem, in jeder Lage sauber ansprechendem Mezzosopran phantastisch. Barbara Dobrzanska, die die Marta vor vier Jahren bereits in Karlsruhe gesungen hatte, begeisterte mit bestens sitzender, nuancenreicher und sehr gefühlvoll eingesetzter Sopranstimme, die auch zu großen Aufschwüngen und Ausbrüchen fähig war. Einen regelrecht heldentenoralen Anstrich verlieh Jürgen Müller dem Walter. Ein markant singender Tadeusz mit noch in der Höhe subtiler Pianokultur war Markus Butter. Herrlich war auch die Katja von Emily Dorn anzuhören. Insbesondere in ihrem recht bedächtig und a capella vorgetragenen Lied im zweiten Aufzug hinterließ sie einen bleibenden Eindruck. Nichts auszusetzen gab es an der Yvette von Larissa Wäspy, die in ihrer Rolle ebenfalls bereits in Karlsruhe zu hören gewesen ist. Einen profunden Mezzosopran brachte Ewa Zeuner für die Krystina mit. Gut gefiel Franziska Gottwald als Bronka. Sehr emotional sang Anna Borucka die Hanna. Ebenfalls einen guten Eindruck hinterließen Lucie Ceralovás Vlasta und die Alte von Sabine Brohm. Volltönende Bass-Stimmen brachten Matthias Henneberg und Michael Eder für den ersten und den zweiten SS-Mann mit. Demgegenüber fiel der dünn und körperlos singende Tom Martinsen in der Partie des dritten SS-Mannes ab. André Eckert (Älterer Passagier), Angela Liebold (Oberaufseherin), Hannelore Koch (Kapo) und Timothy Oliver (Steward und Lagerkommandant) rundeten das vorzügliche Ensemble ab. Hervorragend präsentierte sich der von Jörn Hinnerk Andresen einstudierte Sächsische Staatsopernchor Dresden.

Fazit: Ein ganz herzliches Dankeschön an die Semper-Oper für diese wunderbare Aufführung! Dieses Werk sollte auf dem Spielplan sämtlicher Opernhäuser stehen.

Ludwig Steinbach, 26.6.2017

Die Bilder stammen von Jochen Quast