Mit gewaltigen Anstrengungen versuchte Gustav Mahler (1860-1911) in den Sommermonaten der Jahre 1906 und 1907 sein humanistisches Credo mit einer Symphonie zu erfassen. Als ein „Geschenk an die Nation“, inmitten einer der Katastrophe des ersten Weltkrieges zutreibenden Gesellschaft, bekannte sich der Komponist zu menschlicher Schöpferkraft und Humanität. Auf dem Programm der Sächsischen Staatskapelle hatte Mahlers 8. Symphonie zum ersten und bisher einzigen Mal nur wenige Monate vor der faschistischen Machtergreifung Deutschlands im Juni des Jahres 1932 wie ein vergleichbares Menetekel gestanden. Für den heutigen Konzertbesucher ist die Grundhaltung Gustav Mahlers um die Bewahrung humanistischer Positionen gleichermaßen von Bedeutung, denn wir leben in einer neuen Schicksalszeit. In der Welt rumort es wieder und alle Bestandteile der Mischung aus Überheblichkeiten und Krisenstimmung, gepaart mit übersteigerten Patriotismus sowie unbekümmertem Liberalismus sind am Werken.
Für die Sächsische Staatskapelle endet mit der Aufführung der 8. Symphonie Gustav Mahlers an dessen 164. Geburtstag das zwölfjährige Engagement Christian Thielemanns als Chefdirigent des Orchesters.
Der erste, von Mahler mit „Allegro impetuoso“ überschrieben Teil, war als eine nur selten unterbrochenen Steigerung angelegt und hatte den mittelalterliche Pfingsthymnus „Veni, creator spiritus“ als Textgrundlage. Drei Chöre benötigte Mahler, um den „schöpferischen Geist“ anzurufen und dessen Gnade zu erflehen. Gemeinsam mit dem Riesenorchester und der Orgel zog Christian Thielemann die Chöre in den Sog einer aufbrausenden Klangmasse. Trotz der gewaltigen Kraftentfaltung und Lautstärke blieb das zu Hörende strukturiert, durchhörbar und vor allem klangschön. Auch wurden in keiner Phase der Herbeirufung des „creator spiritus“, des geistlichen Schöpfers, die akustischen Möglichkeiten des begrenzten Volumens der Semperoper überfordert. In den gemäßigten Passagen konnte sich mit Camilla Nylund, Ricarda Merbeth, Christa Mayer, Ṧtĕpánka Pučálková, David Butt Philip, Michael Volle und Georg Zeppenfeld als das exzellente Gesangsensemble in den Sound einmischen. Mit den Solostimmen blitzten die musikalischen Leitgedanken wie Leuchtfeuer bis hin zum entscheidenden „entzünde dein Licht in unseren Sinnen“ auf. Mit erstaunlicher Konsequenz hielt das Orchester diesen enormen Schwung, souverän geordnet und in wohltuender Klangfülle, bis zum abschließendem Gloria durch. Christian Thielemann sorgte nicht nur für einen sicheren Zusammenhalt der enormen Tonschöpfung, sondern stellte auch eindrucksvoll die schönen Soli, unter anderem von der Flöte der Sabine Kittel heraus.
Wurde im ersten Teil reichlich Intensität in die der Liebe harrenden Herzen gegossen („Infunde amorem cordibus“), stellte sich die Lage im zweiten Teil differenzierter dar. Er hatte die Schluss-Szene zu Goethes Faust als Textgrundlage und begann mit einer umfangreichen lyrischen instrumentalen Einleitung. Häufiger kamen kleinere Gruppen der anwesenden Musiker zum Einsatz. Wie Leitgedanken setzten Soloinstrumente die wichtigsten Motive des ersten Teiles in das fein gesponnene orchestrale Gewebe und verbanden musikalisch die beiden Teile der Symphonie. In die Einleitung hinein präsentierten die Chöre die Worte des Dichters, und Christian Thielemann gelang mit den Möglichkeiten des umfangreichen Apparates eine musikalische Erzählung, welche die Worte des Dichters liebevoll deutete und große Phantasieräume eröffnete. Eine Schilderung der Natur durch die Chöre mit scharf, dabei präzise artikulierten Wirkungen der Echos; weich hingegen die Beschreibung des besänftigenden Löwen.
Dann kamen die Momente der Solisten, die Mahler als Hybrid aus Symphoniesatz und Opernszene gestaltet hatte: der Pater Ecstaticus des Baritons Michael Volle besang leidenschaftlich und sinnlich den „ewigen Wonnebrand“ der Liebe. Als Pater Profundus pries machtvoll und aufgewühlt Georg Zeppenfeld mit prachtvoller warmer Stimme und seiner hervorragenden Artikulation die Naturgewalten als göttliche Symbole.
Und schließlich der Doctor Marianus des britischen Tenors David Butt Philip, der mit Eindringlichkeit die Himmelskönigin anrief, um gleich mit seiner Erregung in feinfühliges Piano zu fallen. Sein Tenor strahlte, ohne dominant aufzutrumpfen, als er sich mit unglaublichem Kraftaufwand über das Orchester hinwegsetzte und weihevoll, wie ein Gebet mit dem Chor „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttern ebenbürtig“ intonierte.
Auch die Frauenstimmen brachten ausdrucksvoll und jede charakteristisch ihre Rolle: Camilla Nylunds strahlender Sopran als Magna Peccatrix, die Una poenitentium der Ricarda Merbeth mit ihrem ausgeprägtem Timbre und die beiden biblischen Büßerinnen mit dem Wohlklang ihres sonoren Alt-Gesangs Ṧtĕpánka Pučálková (Mulier Samaritana) und Christa Mayer als Maria Aegyptiaca.
Das Terzett der Magna Peccatrix der Camilla Nylund mit der Mulier Samaritana der Ṧtĕpánka Pučálková sowie der Maria Aegyptiaca Christa Mayers war mit seiner Exaktheit und Finesse eine weitere Besonderheit der Aufführung.
Mit hellem Ton kündeten fröhlich die Chöre der Engel und des Kinderchores Fausts Erhebung an, während besonders wirkungsvoll Regula Mühlemann aus der oberen Proszeniumsloge mit engelsgleich blühender Stimme das „Komm hebe dich“ der Mater gloriosa zu Gehör brachte. Zum Ende kam aus Hunderten von Kehlen das berühmte „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ bis im feinsten Pianissimo, wie ein Hauch das mystische Geheimnis: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“ offenbart wurde. Zu einem Orgel-Akkord von Jobst Schneiderat übernahm der Chor die Steigerung der Dynamik, als alle Beteiligten wie ein Lichtstrahl vom Himmel den monumentalen Schluss setzten.
Christian Thielemann hatte mit größter Selbstverständlichkeit alle Ebenen des gewaltigen Apparates im Griff behalten. Es waren bei aller Gewaltigkeit die zarten Feinheiten, die dieser Aufführung eine schwer überbietbare Vielschichtigkeit gaben, wenn mit berückender Schönheit von den Harfen und hohen Streichern die Liebe gemalt und von Matthias Wollongs Violine wunderschöne Linien in das große Gemälde gezaubert wurden.
Die Sächsische Staatskapelle mit dem Gustav Mahler Jugendorchester sowie erweiterter Bersetzung ließ dieses musikgewordene Licht, mit all seinen Klangblüten glänzen und erhaben ins Weltall strahlen. Unmittelbarer und kongenialer kann Mahlers grandiose Komposition kaum verwirklicht werden.
Großartig waren alle drei beteiligten Chöre: der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra), der Sächsische Staatsopernchor (Einstudierung: André Kellinghaus) und der Kinderchor der Semperoper Dresden (Einstudierung: Claudia Sebastian-Bertsch).
Wo sich die Musik von Gustav Mahlers achter Symphonie erhebt, hat Beiläufiges, Mittelmäßiges, Bösartiges oder Banales keinen Platz. Daher sollte das Werk in größtmöglicher Perfektion zur Aufführung gebracht werden, was ohne jede Zweifel dem scheidenden Chefdirigenten und allen Beteiligten als gelungen bestätigt werden kann.
In den frenetischen Beifall hinein tauchte der Ministerpräsident Sachsens Michael Kretschmer auf der Bühne auf, um als Dienstherr der Sächsischen Staatskapelle dem scheidenden Chefdirigenten für seine über vierzehn Jahre geleistete Arbeit zu danken und ihn zu verabschieden. Launige, zunehmend lockere Worte wurden getauscht. Zum guten Schluss trug der Orchestervorstand des Orchesters Christian Thielemann den Titel eines „Ehren-Dirigenten der Sächsischen Staatskapelle Dresden“ an, um ihn auch für die Zukunft an das Haus zu binden.
Thomas Thielemann, 8. Juli 2024
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 8 Es-Dur
12. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle
Semperoper Dresden
7. Juli 2024
Chor des Bayerischen Rundfunks
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Kinderchor der Semperoper Dresden
Gustav Mahler Jugendorchester
Sächsische Staatskapelle Dresden
Dirigent: Christian Thielemann