
Es war schon ein merkwürdiges Hochzeitsstück, das da 1660 aufgeführt werden sollte – zeigend einen Helden, in dem sich der königliche Bräutigam zu spiegeln hatte, der die Tochter eines Mannes liebt, den er zuvor erschlagen hatte, bevor sich diese ausgerechnet in den Sohn des Vatermörders verliebt hat. Große Verwirrung, schließlich ein denn doch glorioses Finale – eben „Barockoper“. Am Ende wird der Held zwar in den Himmel versetzt, in dem er die Schönheit selbst heiratet, doch muss er zuvor sterben: als Opfer des Nessosgewands, das ihn auf grausame und durchaus unheldenhafte Art gerade rechtzeitig ums Leben bringt, denn auf Erden hätte der unangemessen Liebende von diversen Männern und Frauen nichts als Hohn zu ertragen. Muss man sich darüber wundern, dass L’ercole amante erst 1662 herauskam?
Tatsächlich lag es nicht am Sujet, denn Francesco Cavalli hatte erst einmal nicht geliefert, der Auftraggeber, der Kardinal Mazarin, war 1661 gestorben, und der Einbau des Theaters in die Tuilerien verzögerte sich. Dann sabotierte Lully, der Hofkomponist des zu feiernden Königs Ludwig XIV., das Unternehmen. Zwar kam die Oper zwei Jahre nach der königlichen Heirat heraus, doch mit der italienischen Oper war es erst einmal in Paris zuende: die Oper floppte, und der Komponist zog sich verbittert in seine Heimat zurück.
40 Jahre später setzte sich eine italienische, nun in Paris lebende Komponistin an den Schreibtisch, um das alte, von Francesco Buti verfertigte Libretto noch einmal in Musik zu setzen. Einen Anlass scheint es nicht gegeben zu haben; zumindest sagt uns die Geschichte nichts über irgend einen Auftrag. Es scheint – dies die Vermutung der Kennerin der frühen Operngeschichte, Silke Leopold -, als habe die in Frankreich lebende Italienerin, also die Frau zwischen zwei (auch musikalischen) Kulturen, mit dem Ercole amante ihren ganz persönlichen und privaten Beitrag zur Debatte geliefert, die damals, genauer: seit 1702, an Fahrt aufnahm: eine erste querelle, die Überlegenheit der einen oder anderen nationalen Muse betreffend. Hört man Bembos Werk in dieser Hinsicht, muss man sich nicht mehr über die seltsame – und reizvolle – Stilmischung wundern. Während 1702 die kurzen Arien im italienischen Stil, wie sie Monteverdi und sein Schüler dem recitar cantando eingegliedert hatten, bereits anachronistisch war, beginnt die Oper à la française: mit einer echten französischen Barock-Ouvertüre. Ebenso französisch klingen die Divertissements, Entrées und Chöre, venezianisch (die Dame kam aus der Serenissima) die Rezitative, die die Oper über weite Strecken weitertreiben, bevor sich zwischen bezeichneten und unbezeichneten Arien ein Raum auftut, der ganz Lyrik und Drama ist. Im Ercole amante ist alles da: Trauerzug und Liebeslied, Klagesang und amouröses Duett; bei Iole, der von Ercole Begehrten, und Hyllo, ihrem Geliebten, verschlingen sich die Stimmen auf köstliche Manier. Treten die Grazien auf, so singen sie – die Flöten, natürlich sie, begleiten sie – tatsächlich graziös. Die Orchesterfarben, ein Werk der nötigen Nachschöpfung auf der Grundlage der wie immer sparsamen Partitur, gehorchen der Klangrede, Nettuno dröhnt, als wärs ein Stück von Monteverdi, zu den Tönen eines Regal, die Liebe fühlt sich bei der Laute wohl. Oper als Politik und Wohlklang – nur, dass Bembo den Epilog gestrichen hat, weil der Anlass der königlichen Hochzeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts kein Thema mehr war.
2023 wurde das Werk von Jörg Hubalek und dem Ensemble il Gusto Barocco auf die Konzertbühne gebracht, nun liegt die Silberscheibe der Ersteinspielung vor. Was sie bietet, ist durch und durch gut: im Orchestersatz, bei den Bläsern wie den Streichern, wie auch im Stimmlichen. Kein Sänger und keine Sängerin, die durch unegale Töne unangenehm auffielen, im Gegenteil: Es scheint, als habe die Anweisung gelautet, selbst in den emotional erregtesten Momenten die Contenance und eine sehr gewisse trattenuta, also die Zurückhaltung zu wahren. Doch hat man nicht den Eindruck, dass Bembo, die ein nachweisbar spannendes, oft selbstbestimmtes Leben gelebt hat, ein klassizistisches Drama im Stil Racines geschrieben habe. Dafür war die Vorlage denn doch, auch in ihren Kontrasten zwischen Ernst und Spaß (wofür eine Pagenfigur zu sorgen hat), zu vielfältig. Yannick Debus singt also einen potenten, seiner Ausdruckskraft sicheren Ercole, Anita Rosati eine vorschriftsmäßig empfindsame Iole, Flore Van Meersche eine sopranstarke wie -schöne und doch selbst in den Zornmonologen vornehme Giunone, Alena Dantcheva eine gleichermaßen kontrollierte und erstklassig artikulierende Deianira, die bei aller Emphase den schönen Ton, gleichsam die bienséance bewahrt. David Tricou passt in seinem Sentiment als Hyllo sehr gut zur Iole der Anita Rosati, und Chelsea Marilyn Zurflüh verzaubert sowohl als Venus wie als Grazie Pasithea: deren Schlummerszene Mormorate o fiumicelli („Murmelt ihr Bäche, flüstert ihr Brisen“) vermag auch den aufmerksamsten Hörer kultiviert in den Traum zu geleiten. Arnaud Gluck ist der Paggio, Hans Porten Nettuno, Eutyro (der untote Vater, der in der Unterwelt haust) und, in einem rappelkurzen Sprecheinwurf, der Mercurio: beide auf jenem Vokalniveau, das das Anhören der für das Theater komponierten Oper trotz Abwesenheit jeglicher Szene so angenehm wie kurzweilig macht.
Für das Theater komponiert? Es ist schwer vorstellbar, dass Antonia Bembo sich die Mühe gemacht hat, eine fünfaktige Oper aufs Papier zu werfen, ohne auch nur eine Sekunde an eine wie auch immer geartete Aufführung zu denken. Sie habe, schreibt Silke Leopold, keine Kontakte zur Pariser Oper gehabt – in der, denkt man, die großartige Élisabeth-Claude Jacquet de La Guerre 1694 Céphale et Procris herausbringen konnte. Mag sein, dass alle Hinweise auf etwaig geplante Aufführungen im Orkus der Geschichte verschwanden; rein Informelles hält sich ja bekanntlich weniger in den Akten der Historie. Falls Antonia Bembo den Ercole amante jedoch „nur“ als theoretisches Beispiel für die mögliche Hochzeit von italienischer und französischer Opernkunst ins Reine schrieb, würde sich’s um einen der seltsamsten Fälle der Operngeschichte handeln. Die Neueinspielung, die zugleich eine originale Ersteinspielung auf CD ist, belegt mit ihrem italienischem, vom französischen Kammerton gezügelten Feuer, wie so etwas zu klingen hat.
Mit einem Wort: eine wertvolle und ohne Abstriche schöne Neuaufnahme eines interessanten Stücks.
Frank Piontek, 18. Juni 2025
Antonia Bembo
L’ercole amante
cpo
il Gusto Barocco