Duisburg: „Eugen Onegin“, Peter Tschaikowsky

Ein musikalisch und visuell überzeugendes Psychogramm dreier junger Menschen zeigt Regisseur Michael Thalheimer unter der musikalischen Leitung von Vitali Alekseenok in der Oper Duisburg. Der Chor fungiert als Visualisierung der sozialen Kontrolle durch die Gesellschaft. Die Enge der dörflichen Gesellschaft verdeutlicht die Wand aus aufgeschichteten Holzquadern, die den Akteuren kaum Platz zur Entfaltung lässt und auf der übergroße Schatten der Protagonisten erscheinen können. Luiza Fatyol glänzt als Tatiana, Jussi Myllys als Lenski und Richard Ŝveda als Onegin.

© Andreas Etter

Alexander Puschkins Versroman, 1833 erschienen, ist eine Milieustudie des russischen Adels in Sankt Petersburg und auf dem Land um 1820, und handelt von Menschen, die so reich sind, dass sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen, sondern, wie der 20-jährige Eugen Onegin, als Müßiggänger oder, wie der 18-jährige Wladimir Lenskij als Dichter, von den Erträgen ihres geerbten Vermögens leben. Eigentlich wollte Tschaikowsky die Hauptrollen mit ganz jungen Sängerinnen und Sängern besetzen, aber die technischen Anforderungen sind dafür wohl zu groß. Puschkin hat mit „Eugen Onegin“ das russische Nationalepos geschaffen, das erste literarische Werk, das in russischer Sprache erschien. Mit sicherem Instinkt für einen operntauglichen Stoff griff Tschaikowsky mit seinem Librettisten Konstantin Schilowskij die Episode um Eugen Onegins Beziehung zu Tatjana Larina heraus, in der mit zwei großen Ballszenen und beeindruckenden Chorszenen der Kontrast zwischen dem feudalen Sankt Petersburger Stadtadel und dem etwas schlichteren dörflichen Landadel aufgegriffen wird, und in der Tatjana, Tochter einer verarmten Witwe, den absoluten Tabubruch begeht, einem Mann in einem Brief ihre schwärmerische Liebe zu gestehen. Dramatischer Höhepunkt ist das Duell von Onegin und Lenskij, das aus nichtigem Anlass vom Zaun gebrochen wird, und in dem Onegin eiskalt auf seinen Freund zielt und abdrückt. Die Schuld, die er damit auf sich geladen hat, folgt ihm wie ein blutiger Schatten, und er ist genötigt, das Land zu verlassen, weil Duelle auch schon 1820 strafbar waren, obwohl sie zum Ehrenkodex des Adels gehörten. Nach der Uraufführung am 29. März 1879 in Moskau trat das Werk einen Siegeszug durch Europa an. Die deutsche Erstaufführung dirigierte Gustav Mahler 1892 in Hamburg. Damals bis in die 1960-er Jahre wurde „Eugen Onegin“ im deutschen Sprachraum in deutscher Sprache gesungen, jetzt natürlich in Russisch mit deutschen Übertiteln.

Michael Thalheimer (Regie), Michaela Barth (Kostüme) und Henrik Ahr (Bühnenbild) haben die Handlung in die zeitlose Moderne verlegt. Die Kostüme charakterisieren Olga und ihre Schwester Tatjana mit einfachen geblümten Sommerkleidern, den Chor mit schlichter Arbeitskleidung, Tatjanas Mutter mit einem blauen Tailleur, Onegin mit einem auffallend eleganten türkisblauen Schneideranzug, Lenski mit Existentialisten-Outfit: schwarzer Rollkragenpullover und graue Hose. Die Ballkleidung im dritten Akt ist festlich und für die Damen in Rot- und Rosatönen gehalten. Der Hintergrund der Bühne ist aus etwa einen Meter breiten und 30 cm hohen aufeinander geschichteten Holzquadern gebildet, die en bloc ganz nach vorne und ganz nach hinten geschoben werden können, mit denen man aber auch eine Treppe in zwei Ebenen oder ein Podest bilden kann.

© Andreas Etter

Zu den Walzerklängen des zweiten Akts wird in einem relativ engen Raum getanzt, im dritten Akt öffnet sich die Bühne weiter nach hinten. Durch die abstrakte Bühne wird vom Ort und von der Zeit völlig abstrahiert. Einzige Requisiten sind die Duellpistolen und ein Stuhl. Thalheimer betont die Beziehungen zwischen den Personen. Der erste Akt gilt Tatjanas emotionalem Brief. Tatjana verliebt sich in Onegin, bevor sie ihn sieht, und projiziert ihre Sehnsucht, ihrem ereignislosen Leben in der Provinz zu entkommen, auf den attraktiven eleganten jungen Mann, der mit der romantischen Schwärmerei eines jungen Mädchens gar nichts anfangen kann. Eiskalt weist er sie ab, er habe mit einer Bindung nichts im Sinn, und sie bleibt tief beschämt zurück. Der zweite Akt zeichnet akribisch die Eskalation, die zu Lenskijs Tod im Duell führt. Weil er Tatjana aus dem Weg gehen möchte, wendet Onegin sich auf dem Ball der Larinas so intensiv ihrer Schwester Olga, der Verlobten seines Freundes Lenskij, zu, dass es zu einer großen Eifersuchtsszene kommt. Die Chorsänger, die die beiden immer mehr einkreisen, verkörpern den sozialen Druck auf Onegin und Lenskij, sich dem Zweikampf zu stellen, nachdem der verunsicherte und gekränkte Lenskij die Forderung nach Satisfaktion in den Raum gestellt hat. Onegin will das vermeiden, betrinkt sich mit seinem Sekundanten, kommt dann aber doch noch verspätet zum vereinbarten Ort, zielt auf seinen Freund Lenskij und trifft ihn tödlich. Im dritten Akt trifft Onegin nach mehreren ruhelosen Jahren im Ausland die zur Dame gereifte Tatjana wieder, die ihn zwar immer noch liebt, aber nicht bereit ist, für ihn ihren wesentlich älteren Mann, Fürst Gremin, der ihr gesellschaftliche Anerkennung verschafft, zu verlassen.

Musikalisch bleibt kein Wunsch offen. Die bestens aufgelegten Duisburger Philharmoniker unter der Leitung von Vitali Alekseenok deuteten die Gefühlsregungen sensibel und spielten den Walzer im zweiten Akt und die Polonaise im dritten Akt als Bilder für den rustikalen Charme der Landbevölkerung mit roten Gummistiefeln und das steife Ritual des höfischen Tanzes der Sankt Petersburger High Society mit satten Streichern, brillanten Blechbläsern und elegischen Holzbläsern. Der von Gerhard Michalski einstudierte Opernchor verkörperte in perfekt choreographierten Massenszenen mit individuellen Kostümen die einfache Landbevölkerung und die feudale städtische Gesellschaft, die den Außenseiter Onegin nicht wahrnimmt. Eigentlich müsste die Oper „Tatjana“ heißen, denn ihr Motiv kommt in der Musik am häufigsten vor, und sie macht eine Entwicklung durch. Tatjanas Briefszene „Längst liebt´ich Dich, eh´ich Dich sah“, in der Luiza Fatyol als junges Mädchen ihre erwachte Liebe zu Onegin mit lyrischer Intensität und absolut klangschön schildert, ist eins der Highlights der romantischen Opernliteratur. Fatyol bekam für die 15 Minuten lange „Briefszene“ Szenenapplaus. Tatjana ist vier Jahre später die gesellschaftlich hochgeachtete Gattin des Fürsten Gremin, und weist Onegins Liebe souverän zurück, obwohl sie zugibt, ihn noch zu lieben. Die Brief-Szene ist durchaus autobiografisch, denn Tschaikowsky hat selbst einen solchen Brief von einer seiner Studentinnen, Antonina Iwanowna Miljukova, erhalten. Er hat – anders als Onegin – diese Frau 1877 geheiratet, obwohl er sie nicht liebte, weil er so seine Homosexualität kaschieren wollte. Die Ehe der beiden wurde nicht glücklich. Einen idealen Lenskij verkörperte Jussi Myllys mit einem perfekt geführten hell timbrierten lyrischen Tenor. Seine Arie „Was mag der neue Tag mir bringen,“ ist sicher der Höhepunkt von Lenskijs Dichtkunst. Sein Tod wegen einer Eifersuchtsszene macht immer noch betroffen, der Knall des Schusses als Effekt verstört, weil man immer noch denkt: „Das kann doch nicht wahr sein.“

Der Chor kommentiert: „Er tut gebildet, eitel ist er, und selbst den Handkuss, den vergisst er, Freimaurer soll er auch noch sein, wie andre Wasser, trinkt er Wein,“ so tuscheln die Damen beim Ball der Larinas über Eugen Onegin, der Tatjanas Liebe verschmäht, und der später in die feudale Gesellschaft, zu der Tatjana als Fürst Gremins Gattin Zugang gefunden hat, nicht eingelassen wird.

Richard Ŝveda war der von der Gesellschaft beargwöhnte junge Grundbesitzer Onegin mit weltmännischem Gehabe, jugendlichem Leichtsinn, der zur Eskalation führte, und in anrührendem Liebesschmerz. Thalheimers Inszenierung machte die Ausgrenzung Onegins durch die Gesellschaft mit dem Auftritt zahlreicher Ballgäste, die alle an Onegin vorbei gehen, ohne ihn zu beachten, zur Polonaise im 3. Akt besonders deutlich. Die Außenseiterposition Onegins wird auch dadurch offensichtlich, dass er erst beachtet wird, nachdem der Gastgeber Gremin ihn herzlich begrüßt hat.  „Ganz unbeschwert und heiter, das war ich nie mehr, seit er starb, seit ich am Freund zum Mörder ward … zu ew´ger Flucht bin ich verdammt,“ singt Onegin und erweist sich damit als Seelenverwandter des Wanderers aus Schuberts „Winterreise“ und als Byronscher Held. In seinem Egoismus erweist er sich als auf sich selbst fixierten Einzelgänger, der zu spät erkennt, dass Tatjana die Richtige für ihn gewesen wäre, und lamentiert über seine spät erkannte Liebe zu ihr, die allerdings absolut egozentrisch ist. Für Tschaikowsky ist Onegin kein Sympathieträger, denn er gibt ihm keine eigenen musikalischen Motive.

© Andreas Etter

Szenenapplaus bekam auch Luke Stoker, der mit seinem vollen Bass einen sehr rüstigen Fürst Gremin verkörperte und dessen wundervolle Arie: „Du kennst der Liebe Macht auf Erden,“ als Statement des Fürsten gesungen wird, wer jetzt der Mann an Tatjanas Seite ist. Er liebt seine Frau ehrlich und gibt ihr den Raum, sich mit Onegin auszusprechen. Eine sehr temperamentvolle und lebenslustige, aber auch tief betroffene Olga, von deren Schicksal man gerne mehr gehört hätte, war Maria Polańska. Mit Katarzyna Kunico als Mutter Larina, Rita Kapfhammer als Amme Filippewna, Riccardo Romeo als Franzose Triquet, Jacob Harrison als Saretzkij und Dong Hoon Kim als Vorsänger waren auch die kleineren Partien typgerecht besetzt.

Vitali Alekseenok gestaltete mit den Duisburger Philharmonikern, dem Chor der Deutschen Oper am Rhein und dem hochkarätigen Ensemble einen beeindruckenden Opernabend, der dank Tschaikowskys hinreißender Musik und der durchdachten Inszenierung die „Lyrischen Szenen“ zu einem ergreifenden Erlebnis machte, gerade weil der Komponist normale Menschen in Alltagskonflikten scheitern ließ.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 1. Juni 2025

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner DAS OPERNMAGAZIN

Kritik zur Aufführung in Düsseldorf aus der Spielzeit 2023/24


Eugen Onegin
Peter Tschaikowsky

DOR Theater Duisburg

Besuchte Vorstellung: 28. Mai 2025
Premiere 6. März 2024 DOR Düsseldorf

Regisseur: Michael Thalheimer
Musikalischen Leitung: Vitali Alekseenok
Duisburger Sinfoniker