Richard Wagner hat sein letztes Werk „Bühnenweihfestspiel“ genannt. Egon Voss weist darauf hin, „dass Weihe im Verständnis von Wagners Aufsatz nicht Religiöses, Mystisch-Erhabenes, Kirchlich-Zeremonielles oder dergleichen meint.“ Vielmehr sei Weihe „identisch mit der Begeisterung, welche die ausführenden Musiker, Sänger und Darsteller und das gesamte Ensemble der Mitwirkenden bei der künstlerischen Arbeit beseelte und einte“. Wagners Aufsatz von 1882 bezieht sich explizit auf Parsifal. Und genau diese Weihe übertrug sich jüngst auf die Besucher in der Wiener Staatsoper, die eine musikalische Sternstunde erlebten. Die Stimme des Titelheldensängers Klaus-Florian Vogt befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten. Sie ist gereift und zu ausdrucksvollem Singen möglich, hat sich dabei aber ihre jugendliche Frische erhalten. Eigentlich sollte der Sänger des Parsifal eher tiefer timbriert sein. Doch im Kontrast zu den anderen dominanten tiefen Partien tut das helle Timbre Vogts gut. Wenn er zum Schluss sein „Nur eine Waffe taugt“ mit lyrischem, reinen, klar fokussierten Ton anstimmt, ist der Gipfel der Wagner-Gesangskunst erreicht. Ihm ebenbürtig erwies sich Anja Kampe als Kundry. Die Vielschichtigkeit dieser Figur konnte sie mühelos ausfüllen und dabei ihren runden Sopran nie überstrapazieren. Als ihr sauber intoniertes und mit höchster Kraft gesungenes (und nicht gebrülltes oder sonstwie verfälschtes) „und lachte“ das Haus ausfüllte, gab es kollektive Gänsehaut. Jordan Shanahan sprang für Ludovic Tézier als Amfortas ein. Das Leiden des Gralskönigs wusste er überzeugend darzustellen. Ein schöner, mächtiger Bariton, der mit Emphase, aber ohne Übertreibung die Rolle verkörperte. Günther Groissböck gestaltete einen ebenso weisen wie dominanten Gurnemanz sonor ohne stimmliche Einbrüche bis zum Schluss. Die Partie des Klingsor wurde von der Regie eher als kühler Macher angelegt, doch Jochen Schmeckenbecher verlieh ihr auch die nötigen diabolischen Dimensionen, und keiner sang so textverständlich wie er, wobei auch sonst gut zu verstehen war, was gesungen wurde. Die restlichen zahlreichen Sängerinnen und Sänger seien hier namentlich nicht erwähnt, fügten sich aber nahtlos in das hohe Niveau der Aufführung ein. Auffälligerweise harmonierten die Blumenmädchen nicht ganz so verschmelzend wie in der kurz zuvor besuchten Aufführung des Parsifal in einem westdeutschen Opernhaus. Aber das war wohl so gewollt. Während dort Dirigent und Orchester wie Blumenmädchen einen runden Schönklang darboten, setzte Axel Kober hier auf Differenzierung, wie schon an den ersten Takten des Vorspiels hörbar wurde. Selten hat man die verschiedenen, gleichzeitig ertönenden Stimmen so prägnant verfolgen können! Er akzentuierte insgesamt, ohne den Fluss zu stören und den musikalischen Bogen aus dem Blick zu verlieren. Natürlich bot das Orchester der Wiener Staatsoper auch den nötigen Schönklang – leider bis auf die seltsam grunzende Tuba. Die Qualität der Chöre trug zur erlebten Weihe bei. Alle Ausführenden wurden am Ende zu Recht heftig umjubelt.
Die Inszenierung von Kyrill Serebrennikov und seinem russischen Team ist umstritten. Doch wer sich auf sie einlässt und insbesondere sich mit dem digital vorab für nur 2,50€ erhältlichen Programmbuch (es ist wirklich ein 130-seitiges Buch und kein Heft! Aus ihm entstammen auch die Eingangszitate) beschäftigt, erlebt eine zutiefst humane Sicht auf das Werk. Und nicht jene von Wagner eben nicht intendierte, aber gern vom Publikum konsumierte religiöse Ersatzhandlung. Der kritische Blick auf die selbstgefällige, ihren eigenen strengen Regeln unterliegende Gralsgemeinschaft ist ja mittlerweile Standard. Aber auf die Idee, aus den Gefangenen ihrer Regeln reale Gefangene, in einem Gefängnis lebende Protagonisten zu machen, kann nur einer kommen, der die offizielle Gesellschaft, in der er lebt, als Gefängnis erlebt und fast selbst in einem echten Gefängnis gelandet wäre, wovor ihm nur die Begnadigung zum Hausarrest bewahrt hat. Folgerichtig sieht man im ersten Akt ein Gefängnis, genauer einen Innenhof darin, von drei Seiten über zwei Etagen nur durch Gitter abgetrennte Zellen umschlossen. Von rechts ragt ein vergitterter Zugang hinein, durch den gelegentlich Häftlinge in den Hof gelassen werden, bewacht von korrupten uniformierten Aufsehern – in der Partitur die Knappen und Ritter. Ein Stunt Action Team sorgt für virtuos choreografierte Prügelszenen. Die über alle drei Akte bestehende erhöhte Bühnenebene wird durch eine Treppe zu der nach vorne abgestuften grauen Vorbühne verbunden. Zu den Insassen gehören Amfortas, der, getrieben von der inneren Stimme seines Vaters Titurel, zu Selbstverletzungen neigt, und Gurnemanz als oberste Autorität, die er seinen Tattoo-Künsten, seiner ausgleichenden Art und dem guten Draht zum Wachpersonal zu verdanken hat. Parsifal erlebt die ganze Geschichte als Rückblick: als Sänger weilt er zunächst auf der Vorbühne, als junger Mann im Geschehen. Dieser wird von Nikolay Sidorenko gespielt. Anders als bei Wagner befindet er sich bereits im Knast und tötet keinen Schwan, sondern einen Mithäftling, was in den Videosequenzen auf drei Screens über der Bühne (die vom Parkett aus möglicherweise nur durch Hälse recken zu sehen sind) ersichtlich wird. Überhaupt passen die durchlaufend gezeigten Videos zum Bühnengeschehen. Kundry hat als Journalistin mit einer Sondergenehmigung Zutritt zum Knast, schmuggelt hinein, was gebraucht wird, und fotografiert gutaussehende Insassen. Die Gralstempelszene erstreckt sich über mehrere Tage. Der Auftritt des Chores, die Soloszene des Amfortas, die Enthüllung des Grals, das Abendmahl und die Enttäuschung Gurnemanz‘ über Parsifal werden also getrennt voneinander behandelt. Szenischer Höhepunkt ist, wenn die Wachen die an die Insassen adressierten Briefe lesen, den Inhalt der Pakete unter sich aufteilen und schließlich aus einem Paket einen goldenen Kelch auspacken und in die Höhe heben – für Serebrennikov ist der Gral der Inbegriff der Freiheit, die hier den Gefangenen nur gezeigt, aber nicht gewährt wird, denn der Kelch wird wieder verpackt. Das folgende Abendmahl kann im Gefängnis natürlich nicht stattfinden, die Insassen stärken sich quasi am konzertanten Gesang von Brot und Wein.
Der zweite Akt zeigt kein Zauberschloss, sondern eine PR-Agentur, deren Chef Klingsor ist. Kundry ist die leitende Redakteurin eines Magazins mit Männerfotos. Statt mit Blumenmädchen umgibt sie sich mit Stilistinnen, Fotografinnen und Redakteurinnen. Der singende Parsifal tritt jetzt verstärkt in Aktion. Der Akt steckt voller sinniger und gelegentlich auch nicht durchschaubarer Regiedetails, aber jeder Zuschauer wird anderes für sich entdecken und mit dem Ganzen in Bezug setzen können. Erwähnt sei nur, wie Kundry Parsifal mit seinem Namen ruft und die letzten abtretenden Damen anschließend von ihm ein Autogramm erbitten – Symbol dafür, dass er jetzt eine Identität erhalten hat. Oder der Auftritt der drei Frauen, die seine Mutter verkörpern, oder wenn am Ende Kundry Parsifal zwar verflucht, aber dann Klingsor erschießt – das macht Sinn, weil nur so sie dann nicht mit seinem Reich untergeht, sondern Parsifal ihr zurufen kann: „Du weißt, wo du mich finden kannst!“ und somit eine Perspektive zum dritten Akt eröffnet.
Dieser spielt wieder im Gefängnis, das aber inzwischen aufgelöst wurde. Nach hinten ist es offen, dort ist es auch hell. Dennoch sind die Insassen geblieben, zu ihnen haben sich einige Frauen gesellt, die Handarbeiten betreiben, unter ihnen Kundry, mittlerweile eine alte Frau. Wenn Parsifal sich mit ihr versöhnt, entsteht das Bild einer Pietà – nur ein Beispiel für die sprechenden Regieeinfälle Serebrennikovs. Am Ende weist Parsifal allen den Weg in die Freiheit ohne Zuhilfenahme des Grals, nur er bleibt zurück. Dies ist eine Idee, die von besagter westdeutscher Aufführung übernommen wurde und bei der der Regisseur sich bei sich und anderen Inszenierungen eifrig bedient hat.
Natürlich ist Serebrennikovs Konzept kein durchweg schlüssiges. Das weiß er auch, weist aber auch darauf hin, dass die Rückschau Parsifals (die dieser Inszenierung zugrunde liegt) eine gebrochene ist: „Wichtig ist mir, zu betonen, dass ich einen poetischen Erinnerungsraum geschaffen habe, in dem es – genau wie in unserer Erinnerung auch – Widerspruche geben kann und in dem sich verschiedene Ebenen überlagern oder wie in einer Überblendung ablösen können. Und natürlich weist jede Erinnerung Lücken und Leerstellen auf. Die Grenze von Erlebtem und Phantasiertem bleibt fließend – bei aller kinematographischer Konkretheit, mit der meine Aufführung arbeitet.“ Insgesamt also ein absolut hörenswerter und durchaus sehenswerter, wenngleich herausfordernder Parsifal an der Wiener Staatsoper. Drei Vorstellungen gibt es noch im Mai; in der nächsten Spielzeit sind keine Aufführungen vorgesehen.
Bernhard Stoelzel 29. April 2025
Parsifal
Richard Wagner
Wiener Staatsoper
23. April 2025
Premiere: 15. Dezember 2021
Inszenierung: Kyrill Serebrennikov
Musikalische Leitung: Axel Kober
Orchester der Wiener Staatsoper
Folgevorstellungen: 2.5., 5.5., 8.5.