Aachen: „Orphée aux enfers“, Jacques Offenbach

© Thomas Aurin

Es ist ein lustvolles Spektakel, ein Spiel mit Klischees und Konventionen mit schmissiger Musik, unter anderem dem berühmten Can-Can, und eine Satire auf die Götter der griechischen Mythologie und den Teufel in der Hölle. Zum Glück in französischer Sprache mit viel Wortwitz, die Öffentliche Meinung illustriert mit einer Website mit deutschen Kommentaren, geht der Parforceritt des spielfreudigen Ensembles direkt von der Erde über den Olymp in die Hölle, wo gut gelaunte Teufel ordentlich Stimmung machen. Die knapp drei Stunden vergehen im Fluge

Eine der ersten überlieferten Opern überhaupt, „L´Orfeo“ von Monteverdi aus dem Jahr 1607, und auch die Reformoper „Orfeo ed Euridice“ von Gluck aus dem Jahr 1762 handeln vom Orpheus-Mythos. Es geht um die hehre Gattenliebe und die Kraft der Musik. Glucks Klage-Arie des trauernden Orfeo wird sogar in Offenbachs Operette zitiert. Die älteren unter uns kennen vielleicht noch die deutsche Verfilmung von Offenbachs Operette: „Orpheus in der Unterwelt“ aus dem Jahr 1972 mit Theo Lingen als Styx und Liselotte Pulver als „öffentliche Meinung“.

Unter dem französischen Titel „Orphée aux enfers“ mit dem Text von Hector Crémieux und Ludovic Halévy schuf der Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema einen umwerfend komischen interaktiven Abend mit Offenbachs Meisterwerk am Theater Aachen. Das bestens aufgelegte Ensemble, das Sinfonieorchester Aachen unter André CallegaroOpernchor und Extrachor in der Einstudierung von Jori Klomp und eine Reihe von Statisten und Tänzerinnen und Tänzern, die zum Beispiel den dreiköpfigen Cerbère (Höllenhund) bewegten oder als Pressemeute auftraten, schufen eine frech-frivol-französisch wirkende Atmosphäre. Jackie Tadéoni kreierte herrliche Kostüme: Göttinnen und Götter mit ihren Attributen ganz in Weiß, der Höllenwächter Hans Styx im Gehrock mit Zylinder, die öffentliche Meinung im strengen Schneiderkostüm mit wadenlangem Rock, Eurydice in gewagt erotischen Kleidern – eine Augenweide!

© Thomas Aurin

Die Inszenierung bezieht an vielen Stellen das Publikum ein. So erhebt sich Julie-Marie Sundal, Darstellerin der öffentlichen Meinung, als Zwischenruferin aus einer der hinteren Reihen und bahnt sich lautstark schimpfend den Weg durch die Reihen auf die Bühne. Die Projektionswand mit dem Chat-Fenster, flankiert von Zeitungstiteln, zeigt immer wieder neue Posts von Zuschauenden, die anscheinend die Vorstellung verfolgen, und kritische Kommentare posten. Beim Couplet des Cupidon, gesungen von Jelena Rakić, hat das Publikum die Aufgabe, den Kuss-Refrain mitzusingen, und zum Schlussbild werden tatsächlich vier zufällig gezogene Zuschauer, die sich vorher anmelden konnten, auf die Bühne in die Hölle gebeten. Sehr aktuell ist die Darstellung der öffentlichen Meinung mit dem Bezug auf Presseerzeugnisse, eine aufdringliche Meute von Journalisten und Journalistinnen und vor allem die eingeblendeten Posts auf Facebook oder ähnlichen Plattformen, die in schneller Folge erscheinen, mit denen jeder seine Meinung zum Ausdruck bringen kann.

Jacques Offenbach hat den Orpheus-Mythos konterkariert und nimmt die Promiskuität der Götter, vor allem Jupiters, zum Anlass, den Menschen seiner Zeit, aber auch uns, den Spiegel vorzuhalten. Die Hölle, die im 19. Jahrhundert tatsächlich viel präsenter war als heute, wird als lustvolles Spektakel dargestellt, was vermutlich ein Kontrapunkt zur schwarzen Pädagogik des 19. Jahrhunderts („Wenn du nicht brav bist, kommst du in die Hölle“) sein sollte.

Die Ehe der attraktiven lebenslustigen Eurydice mit dem Geiger Orphée steht vor dem Aus. Sie hat eine Affäre mit dem Imker Aristée, der sich als verkleideter Pluton, Gott der Unterwelt, erweist. Orphée geht fremd mit einer Nymphe. Die beiden wollen sich scheiden lassen, aber das lässt die öffentliche Meinung nicht zu. Als Eurydice schließlich vom Biss einer Schlange getötet wird und Pluton in die Unterwelt folgt, kann Orphée sein Glück nicht fassen. Aber die öffentliche Meinung, „L´opinion Publique“, verkörpert durch eine resolute Frau im strengen Schneiderkostüm, nötigt ihn, ihr in die Unterwelt zu folgen, um sie zu befreien. Im Olymp – Nachbau des Portikus auf dem Eingang des Theaters Aachen – liegen die Göttinnen und Götter des Olymp und schlafen. Juno vermutet, ihr Gatte Jupiter könne hinter dem Verschwinden Eurydices stecken, aber der ruft Pluton herbei, der alles abstreitet. Als „L´opinion Publique“ mit Orphée im Olymp aufkreuzt, erkennt Orphée in Pluton den Liebhaber seiner Frau. Der gesamte Olymp beschließt, in die Unterwelt zu ziehen, um Eurydice zu suchen.

Eurydice ist in der Unterwelt in einem Einzelzimmer eingesperrt und langweilt sich. Das ändert sich, als die Göttinnen und Götter des Olymps erscheinen und Jupiter auf sie aufmerksam geworden ist. Er verwandelt sich in eine Fliege, um durch das Schlüsselloch ihres verschlossenen Zimmers zu passen und in ihr Zimmer zu kommen. Die mannsgroße Fliege, in die sich Jupiter verwandelt hat, umwirbt die in ein offenherziges erotisches rotes Kleid gehüllte Eurydice und verschafft ihr offensichtlich höchste Lustgefühle. Sie planen gemeinsam die Flucht. Pluton bietet in der Unterwelt, der Hölle, den Göttern und Göttinnen, aber auch dem Publikum, eine gute Party. Aus dem Publikum wurden teilnehmende Beobachter mit Hilfe eines Ziehungsgeräts, das an die Ziehung der Lottozahlen erinnerte, rekrutiert, die sich von den Teufeln piesacken lassen konnten. Orphée und „L´opinion Publique“ erscheinen, und Orphée bittet pflichtgemäß darum, Eurydice mit auf die Erde nehmen zu dürfen. Jupiter stimmt zu, aber er dürfe sich nicht nach ihr umdrehen. An Orphées Hand geht Euridice hinter ihm her, als Jupiter einen Blitz schleudert. Erschrocken wendet sich Orphée um – und alle sind zufrieden. Mit dem Höllen-Can-Can endet das wilde Spektakel.

Es wurde mit großer Spielfreude gesungen und getanzt, die zahlreichen Rollen waren alle typgerecht besetzt. Besonders hervorheben sollte man Orphée (Paul Curievici) und Eurydice (Larisa Akbari). Sie spielten die Zerrüttung ihrer Ehe mit viel Krach und Kreischen ausgesprochen lebensnah und sangen hervorragend.

L`Opinion Publique (Julie-Marie Sundal) war mit ihrer hervorragenden Bühnenpräsenz eine bildstark unterstützte öffentliche Meinung. Sie sprach und sang als einzige in deutscher Sprache. Tatkräftig unterstützt wurde sie durch eine Meute von Sensationsreporter/innen mit Kameras und Mikrophonen, die von Tänzerinnen und Tänzern der Relevé Ballettschule in der Choreografie von Anastasia Siriatska das Verhalten der Pressemeute bei öffentlichen Ereignissen persiflierten. Pluton (Ángel Macías) erwies sich auch als Aristée als Erzkomödiant, der den irdischen Tod der Eurydice und ihre Karriere in der Unterwelt begleitete.

© Thomas Aurin

Hans Styx (Ralf Rachbauer) gab augenzwinkernd die Charakterstudie des versoffenen Höllenwächters. Das Couplet des ehemaligen „Prince de Boëtie“ kannten einige in der deutschen Version über den „Prinz von Arkadien“ von Theo Lingen. Jupiter (Jorge Ruvalcaba) war ein Götterchef mit Autorität und sonorem Bariton. Im liebevoll ausgearbeiteten Kostüm der mannsgroßen Fliege riss er in der lebensnahen Erotikszene im Duett mit Eurydice das Publikum Begeisterungsstürmen hin. Die turbulente Höllenszene, die im berühmten „Can-Can“ gipfelte, beschloss einen überaus kurzweiligen und durchaus satirischen Operettenabend mit kritischem Blick auf die Massenmedien.

Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall, auch mit Kindern ab 12 Jahren. In der Vorstellung am Ostermontag, dem 21. April 2025 waren viele Familien, die sich köstlich amüsierten.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 29. April 2025

Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


Orphée aux enfers
Jacques Offenbach

Theater Aachen

Besuchte Vorstellungen
15. März 2025 / 21. April 2025

Regisseur und Bühnenbildner: Michiel Dijkema
Dirigat: André Callegaro
Sinfonieorchester Aachen