Hamburg: „Le nozze di Figaro“

Ein buchstäblich phänomenales musikalisches Selbstgespräch

Die Idee an sich ist genial: Das ganze Bühnenbild eine dreidimensionale Partitur. Wände und Decke, deren Gittergeflecht wiederum als Notenlinien deutbar sind, dicht an dicht behangen mit Notenblättern, sogar die Rokoko-Kostüme der Protagonisten verstofflichte Musik, im Wortsinn. Mozart, so betonte Wolfgang Hildesheimer (der seine Aussage wiederum von Schopenhauer lieh), ist „kein ‚malender’ Komponist“. Wagner verpasste der Musik des geschätzten Kollegen deshalb das Attribut „absolut“. Mozart vertont nicht etwa Sprache – selbst dann nicht, wenn sie von einem so begabten Autor wie da Ponte stammt – sondern er ist ein Komponist, der „sein eigenes Geschehen aufbaut, orientiert an definierbaren Wendungen des vorliegenden Textes“, so Hildesheimer in seinem Buch „Mozart“. Und: „Figuren (…), vorpsychologische Inventionen, werden erst in der Musik zu Wirklichkeit, das heißt in Mozarts Musik…“

Die Staatsoper Hamburg gibt „Le Nozze di Figaro“ also quasi als ein Stück verkörperlichter Musiktheorie. Der „Klangkäfig“, in den das Geschehen laut Vorankündigung der Produktion „gesperrt“ ist, ist nichts anderes als der Kopf des Komponisten. Zu dessen Komplizen macht Regisseur Stefan Herheim den Zuschauer: Vom ersten Moment an verfolgt jener die Niederschrift der Partitur der Oper, die sich, wie ein Filmvorspann, auf der herabgelassenen Leinwand vollzieht. Man schaut diese „Komödie durch (nicht: mit!) Musik“ durch die Augen des Komponisten. „Mozart gelingt es noch bis in die intrikatesten Ensembleszenen, die jeweilige Situation gleichzeitig von außen und von innen darzustellen: das subjektive Erleben der Beteiligten und das Panorama des Geschehens, wie es sich uns objektiv mitzuteilen habe“, so Hildesheimer. Im letzten Akt, während der nächtlichen Gartenszene, als das im Saal sacht aufleuchtende Licht den Bühnenraum auf das gesamte Auditorium ausweitet und das Publikum dadurch in die Aktion einbezieht, sieht sich der Zuschauer gar selbst aus dem Blick des Komponisten, dringt ganz in dessen Kopf hinein.

Dass es darin nicht immer bloß gesittet zuging, ist spätestens seit den 80er Jahren durch den Film „Amadeus“ von Milos Forman bekannt. Sein Wissen bezog er übrigens von Hildesheimer, der in seinem Buch mit dem überzuckerten Image des Komponisten gründlich aufgeräumt hatte. Mozart hatte enorme Freude an verbalen Ferkeleien, er war zuweilen geradezu hysterisch albern, führte sich kinds- und tollköpfig auf. Es passt also – nicht bloß zum Sujet des „tollen“ Tags, sondern auch zur Persönlichkeit des Komponisten – dass die Musiknotation gleich zu Beginn in erotische Kritzeleien von Strichmännchen und -frauchen, gar ganzen Spermienschwärmen ausartet, die am Schluss in wild skizzierten Feuerwerken explodieren, und dass es in der Zeit dazwischen auf der Bühne fortwährend anzüglich und grotesk zugeht.

Mozart war, neutral ausgedrückt, unangepasst, und zwar nicht nur auf der Verhaltensebene. Hildesheimer mutmaßte, dass es dem „Wunderkind“ wahrscheinlich auch im Erwachsenenstadium nie bewusst wurde, wie (hoch)begabt er war. Überhaupt: „Der verbale Ausdruck seelischer Empfindung ist Mozarts Sache nicht gewesen“, schreibt Hildesheimer. Zu realen Menschen habe der Komponist „ein distanziertes Verhältnis“ gehabt. Er „lebte“ in der Musik – mit dieser Formulierung fühlte nicht einmal Hildesheimer sich wohl und wählte sie zur Erläuterung der Person dennoch.

So ganz stimmt diese Aussage jedoch nicht. Denn Mozart lebte in der Welt. In jener stand zu Zeiten seiner Arbeit an „Le Nozze di Figaro“ übrigens der zweite (kleine) Türkenkrieg ins Haus: ein Zusammenprall muslimischer und westlicher Kultur (dessen Auswirkungen auch musikalische Spuren hinterließen, im Rondo „alla turca“ der Klaviersonate Nr. 11). Für einen kurzen, irritierenden Moment fühlt man sich in dieser Inszenierung an den historischen Kontext erinnert, als – in der Fantasie des Grafen – Figaro durch dessen Dolch enthauptet wird. Was allerdings spätestens dann buchstäblich ins Gesichtsfeld rückt: Rache ist das zweite große Thema in „Le Nozze di Figaro“ – ein gern übersehener, gespenstisch aktueller Aspekt des Stücks.

Den Gegenpol bildet nicht etwa das Thema Ehe – sondern Liebe. Exakt hierin besteht der geradezu visionäre Vorgriff des Komponisten: Die Liebesheirat wird erst in der Epoche der Romantik Ideal der Verbindung zwischen Mann und Frau sein. Mozart war (äußerlich) verspielter Rokoko-Mensch – im tiefsten Inneren jedoch bereits Romantiker. Ein Revolutionär auf dem Gebiet der Liebe.

In seiner Wahlheimat Wien war der Stern des einstmals zumindest vom Publikum Geliebten längst im Sinken begriffen, mochte er im Ausland auch gefeiert sein. „Le Nozze di Figaro“ war nur eine von zahllosen Opern, mit denen sich der Adel die Zeit vertrieb, seine Klavierkonzerte interessierten nicht. Andere Größen, wie beispielsweise Haydn, hatten Mozart gesellschaftlich und musikwissenschaftlich den Rang abgelaufen. Opern wurden bei heute längst vergessenen Komponisten in Auftrag gegeben – und mit „seinen“ Sängern aufgeführt. Mozart hingegen erhielt, vielleicht als Folge von 1784 in Adelshäusern gegebenen Konzerten, Ende 1787 lediglich einen „Dauerauftrag regelmäßiger Lieferungen von Tanzprogrammen für den Hof“. Es ist kein Wunder, dass er ein großes Interesse am Stück von Beaumarchais hegte: In jener Zeit machte er Grafen (beziehungsweise die kaiserliche Hofgesellschaft) tatsächlich Menuette tanzen. Mozart ist Figaro.

Er schrieb mit diesem Werk keine „Revolutionsoper“. Aber er macht seine Auftraggeber lächerlich. Er hatte die Höhen, nun vor allem auch die Tiefen des Erfolgs erlebt, er wusste, dass schon die damalige Amüsiergesellschaft der Reichen und Schönen ihre Lieblinge eiskalt fallen lässt, wenn ihr plötzlich langweilig ist, wenn neue Moden, neue Sternchen „angesagt“ sind.

Die Unzuverlässigkeit der Gunst trifft natürlich auch und insbesondere zu für die weibliche. Die Liebe seines Lebens hatte ihn abgewiesen, deren in jeder Hinsicht weitaus pragmatischere Schwester erwies sich als leidlicher Ersatz. Für Mozart war die Liebe zeitlebens Sehnsuchtsort, nicht Heimat. „Ihr, die ihr die Liebe kennt: schaut, ob ich sie im Herzen habe“: Mozart ist auch Cherubino. Der wiederum ist nicht der Engel der Geschichte (die politische Revolution) – sondern der Engel der Liebe ist in dieser Oper gegenwärtig, singt (himmlisch ergreifend, dank Dorottya Láng) durch diese halb tolle, halb bemitleidenswerte Figur. Sie ist die einzig wirklich Fühlende unter den Protagonisten. Figaro ist das Außen, Cherubino das Innen Mozarts. Und wenn er – nicht selten – ganz allein ist, spricht er mit sich selbst.

Ein solcher Moment ist „Le Nozze di Figaro“. Mozart ist von allen früheren Freunden und Gönnern verlassen, und er schafft sich Gesellschaft – in seinem Kopf. Das Komponieren ist für ihn einerseits (intellektuelles) Spiel, andereseits Ventilieren von Emotion – dies jedoch nonverbal: durch den „Klang der vergeblichen Worte“, wie Cherubino singt. Das Personal des „Figaro“ ist ihm jene Unterhaltung, Genugtuung (die vornehme Form der Rache), Zugehörigkeit, die er im Leben bitter vermisst. Es verschafft ihm, wie uns beim Zuhören (und -sehen), ein Gefühl des Glücks.

Bevor es auf der Bühne tatsächlich eintritt, da endlich alle Verwirrungen gelöst und die Liebe gesiegt hat, lässt der Regisseur dem Publikum buchstäblich ein Licht aufgehen, während der nächtlichen Gartenszene, damit dem Zuschauer bewusst wird, dass etwas Besonderes im Gange ist. Er darf sich, überdies moralisch ermahnt durch Susanna, als Teil des Geschehens betrachten – als Protagonist jener durchgedrehten Spaßgesellschaft dort oben, die „Spiele der Erwachsenen“ betreiben. Und er soll sich gegenwärtigen, dass er die Geschichte „durch (nicht mit!) Mozarts Musik“ erlebt.

Der dann eintretende Augenblick, in dem das Glück vollkommen ist, vollzieht sich wieder im nächtlichen Dunkel, und er ist vertont mit einer Trauermusik. Alle sind glücklich, nur einer nicht: der Komponist. Der leidet, in diesem Moment, an einer Art postnataler Depression, die jeden Künstler kurz vor Fertigstellung des von ihm geschaffenen Werks ereilt. Er hat es zur Welt gebracht und nun, wo die Geschichte fast vorbei ist, wird die Gesellschaft in seinem Kopf ihn verlassen. Er wird zurückbleiben in seiner entsetzlichen Einsamkeit, eingesperrt in seinen eigenen Kosmos, den (Klang-)Käfig in seinem Kopf. Aber bevor das geschieht, zündet er, in unserem Gehör und vor unseren Augen auf der Leinwand-Partitur, rasch noch ein amüsantes kleines Skizzenfeuerwerk als Finale.

Und wird, damals wie heute, von seiner Mitwelt nicht verstanden. Die reagierte gestern abend (zu Recht) mit Ovationen für Sänger, Musiker und Regieteam. Doch einen Moment des Innehaltens gab es zuvor nicht. Das Publikum war „im Kopf des Komponisten“ und ist, dem einhelligen Jubel nach zu urteilen, dem Menschen dennoch nicht nahegekommen. Obwohl er und die ganze Tragik seiner Existenz, so deutlich wie wahrscheinlich in keiner anderen seiner Opern, in „Figaro“ vollkommen sicht- und fühlbar wird. Hildesheimer nämlich irrte in seiner Behauptung, über die Person Mozart sei aus deren Musik nichts erfahrbar. In dieser Produktion gelingt der phänomenale Gegenbeweis. „Le Nozze di Figaro“ ist keine komische Oper. Sondern eine zutiefst traurige.

„Ohne Musik wär’ alles nichts“ (Mozart) – aber ihre fundamentale Wirkung entfaltet „Le Nozze di Figaro“ vor allem durch eine ausnahmslos hervorragende Besetzung (in weiteren Hauptrollen: Katerina Tretyakova als Susanna, Wilhelm Schwinghammer als Figaro, Kartal Karagedik als Graf Almaviva, Iulia Maria Dan als Gräfin Almaviva, Katja Pieweck als Marcellina, Jürgen Sacher als Don Basilio, Peter Galliard als Don Curzio, Tigran Martirossian als Don Bartolo, Christina Gansch als Barbarina, Franz Mayer als Antonio). Dirigent Ottavio Dantone und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg lassen durch die „himmlische“ Unbeschwertheit der Komposition effektvoll deren dämonische und tragische Dimension anklingen. Die wunderbare Veranschaulichung der Musik verdankt sich Christof Hetzer (Bühnenbild), Gesine Völlm (Kostüme) sowie den Video-Gestaltern (fettFilm).

Christa Habicht, 16. November 2015

Sämtliche Fotos: Karl Forster