Das Publikum wird von Anfang an mit absichtlich disharmonischen, chaotischen Tönen überschüttet, hieß es in einer anonymen Kritik in der „Prawda“, die kurz nach der Aufführung von Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk am 26. Januar 1936 erschien. Dem Komponisten wurde angedroht, sein Spiel könne sehr schlimm enden. Was das in der Stalin-Ära hieß, lies den Adressaten solcher medialer Pranger-Urteile das Blut in den Adern gefrieren.
Dabei hatte Schostakowitsch seine Oper ganz im Sinne dessen entworfen, was der Parteitheoretiker Nikolai Bucharin 1934, dem Uraufführungsjahr, für die Kunst im Sinne eines sozialistischen Realismus leisten solle: Geschichten von Tragödien und Konflikten, von Wankelmut und Niederlagen, vom Kampf widerstreitender Tendenzen sollten erzählt werden, was ziemlich genau die Handlung charakterisiert, aber das Problem lag woanders. Schostakowitsch hatte seine Oper eine Tragödiensatire genannt und das war nicht im Sinne einer humor- und satirefreien Propaganda. Sticheln durften nur die Machthaber; darüber hinaus wurden der ganze Irrsinn der Liebe und die beunruhigende Macht des Sexuellen, die das Werk prägen, als nicht systemstabilisierend empfunden. Katerinas Wahnsinn ist eine Parabel für die psychische Destruktion in einer von Angst durchsetzten Welt, wie dem Stalin-Sowjetreich.
Der bildmächtigen Inszenierung von Angelina Nikonova, die am 22. Januar des vorigen Jahres Premiere hatte, wurde in der Kritik mitunter Harmlosigkeit und überzogene Werktreue vorgeworfen, und ihr die Umsetzung der Oper als Verfilmung eines Drehbuchs unterstellt. Das ist insofern nicht uninteressant, als Schostakowitsch ja gerade als Filmmusik-Komponist Maßstäbe setzte.
Ja, Frau Nikonova ist Filmregisseurin, aber sie hat aus der Oper keinen Film-Abklatsch gemacht oder eine ideenlose Regie durch anstrengende Video-Einblendungen aufgehübscht, wie das so oft er Fall ist. Das Filmische ist bei ihrer „Lady“ auf den ausgesprochen stimmungsvollen und passenden Bühnenhintergrund reduziert, der von einer unwirtlichen Winterlandschaft in den ersten beiden Akten über die gleiche Landschaft im prallgrünen Frühling bis zu einer Friedhofsszene bei Gewitter und schließlich der eisigen Wolga mit wellenbewegten Eisschollen wechselt. Wind, Wolken, Vogelschwärme und Sternschnuppen beleben die Szene diskret, aber charmant.
Das gigantomanische Bett, das für die erotischen Sehnsüchte Katerinas steht – es steht tatsächlich aufrecht, damit man das, was darin passiert, verfolgen kann. Ein schöner Einfall, einfach aber genial. Die Holzkonstruktion erinnert ein bißchen an archäologische Rekonstruktionen in einem Freilichtmuseum für slawische Bauten aus dem Frühmittelalter und in seiner Archaik der nach oben ragenden, krummen Baumstämme könnte es auch der Tempel einer altrussischen Fruchtbarkeitsgottheit sein.
Dem gegenüber stehen die Überwachungskameras am Vordach des Landbetriebes des Kaufmanns Boris Timofejewitsch Ismailow, der alles, was auf seinem Hof passiert, mit den Argusaugen der modernen Technik kontrolliert. Hinter ihm birgt ein riesiger Onkel Dagobert-Tresor seinen Reichtum, eine ganze Regalwand von Einmachgläsern kündet von zwanghafter Vorratswirtschaft. In den Gläsern sammelt sich totgekochtes Gemüse, auf ewige Tage hin konserviert, wie die Vorstellungen einer Gesellschaft, die Abweichungen und Neuerungen nicht duldet.
In der Tat ist die Libretto-Bühnenhandlungs-Kongruenz ausgemacht stimmig und wenn Katerina und Sergei so heftig Sex haben wollen, „daß die Ikonen von der Wand fallen“, dann passiert genau das. Kann man einfach mal machen, weil es witzig ist, und, liebe Kolleginnen und Kollegen – ärgern wir uns denn nicht dauernd über Produktionen, in denen das Dargestellte vom Gesagten abweicht, nur weil eine Regie auf Krampf originell-werkuntreu sein will?
Angelina Nikonova hat Schostakowitschs musikalischen Humor genau verstanden und wenn tatsächlich eine wilde Sexszene musikalisch ausgemalt wird, bis hin zum fallenden Glissando der erschlaffenden Männlichkeit, dann senkt sie eine Leinwand über die Szene und projiziert darauf die leidenschaftlich spielenden Musiker, um zu verdeutlichen: Leute, hört auf die Musik, die sagt alles!
Die genannte Friedhofsszene ist im Übrigen ein intelligenter Kunstgriff, um eine Umbaupause zu überspielen, denn der Pope (Tigran Martirossian) spricht unter einem düsteren Gewitterhimmel eine orthodoxe Litanei, indem er vor Gräbern mit korrekt dargestellten russischen Holzkreuzen steht. Wer denkt bei der Stelle „du schickst den Todesengel“ nicht an Katerina, die sich aus ihrer Not heraus zur Herrin über Leben und Tod erklärt hat?
Kristine Opolais verkörpert diese trotz aller Übertretungen erklärte Sympathieträgerin durchweg spielerisch überzeugend, aber in den ersten beiden Akten hat sie zuweilen Probleme mit der Fülle in Höhen und Mittellage. Die Klage über ihre Einsamkeit gestaltet sie allerdings wundervoll sensibel und steigert sich insgesamt deutlich in den beiden letzten Akten.
Ihr Geliebter Sergei ist Pavel Černoch, der sowohl stimmlich als auch schauspielerisch exakt den Schürzenjäger verkörpert, der weiß, wie er Frauen schwach macht, um sie fallenzulassen, wenn er das Interesse an ihnen verloren hat.
Der Krämerseele von Ismailow verleiht Alexander Roslavets mit kraftvoller Bosheit erschütternde Greifbarkeit, während Vincent Wolfsteiner die jämmerliche Gestalt seines Sohnes in all seiner Unfähigkeit erlebbar macht.
Alle kleineren Rollen sind ausgesucht gut besetzt, aus den durchweg sehr plastisch charakterisierten Figuren ragen der schäbige Trunkenbold (Andrew Dickinson) und der Polizeichef (Grzergorz Pelutis) heraus.
Die Wiedergabe des Russischen ist bei allen, wie Kenner der Sprache beteuern, ausgesprochen gekonnt. Allerdings hätte man sich in einigen Szenen eine etwas ausgefeiltere Bewegungsregie gewünscht, denn manche Darbietung schrammt hart am Rampensingen vorbei.
Dafür agiert der Chor der Staatsoper Hamburg ausgesprochen lebhaft, auch die gesangliche Leistung ist von Stärke und Akkuratesse geprägt.
In jeder Hinsicht grandios ist das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Kent Nagano, das alle Facetten dieser mitreißenden, niederschmetternden, sanft-gefühlvollen, dann wieder entblößenden und so oft ironisch gebrochenen Musik mit größter Souveränität und vor allem Kraft wiedergibt, ohne auch nur ein einziges Mal die Solisten zu übertönen. Das ist Schostakowitsch, der unter die Haut geht. Und ja, disharmonisch ist vieles in dieser Musik, weil das Leben disharmonisch ist, da hat der anonyme Speichellecker Stalins ungewollt etwas Wahres ausgesprochen. Nach der Veröffentlichung des Prawda-Artikels schlief Schostakowitsch übrigens monatelang mit gepacktem Koffer unter dem Bett, angeblich immer schon im Anzug. Das würde er im neostalinistischen Putin-Reich wieder tun müssen.
Leider war die Staatsoper am 12. Mai nur spärlich besucht, aber diejenigen, die dort waren, bescherten einer überzeugenden Produktion großen Beifall mit zahlreichen Bravo-Rufen.
Andreas Ströbl, 14. Mai 2024
Lady Macbeth von Mzensk
Dmitri Schostakowitsch
Staatsoper Hamburg
Besuchte Aufführung am 12. Mai 2024
Premiere am 22. Januar 2023
Inszenierung: Angelina Nikonova
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg