OF: Liebe Frau Stöppler, vergangene Saison haben Sie an der Staatsoper Stuttgart mit großem Erfolg Bernhard Langs neue Oper Dora auf die Bühne gebracht. Diese Aufführung ist vor kurzem von der Zeitschrift Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gekürt worden. Was haben Sie gedacht, als Sie das Angebot erhielten, in Stuttgart die Dora zu inszenieren?
S: Zunächst einmal habe ich mich sehr über Viktor Schoners Anfrage gefreut, da für mich das Stuttgarter Opernhaus schon seit Studienzeiten ein ganz besonderer Leuchtturm war und mich, gerade in Bezug auf zeitgenössisches Repertoire, schon immer sehr angezogen hat. Dort dann auch noch ein Musiktheater von Bernhard Lang mit zur Welt bringen zu dürfen, war also ein kleiner Traum für mich. Und als das Stück Dora dann auch noch inhaltlich-musikalisch ein echter Knaller zu sein schien, war das Glück vollkommen.
OF: Wie sind Sie an die Dora herangegangen? Was war Ihr Grundkonzept?
S: Zunächst einmal haben wir uns als Team über den Text von Frank Witzel angenähert, denn der war ja lange vor der Musik da und hat auch Bernhard Lang durch und durch inspiriert. Die vielschichtige, komplexe Sprache des Romanciers Witzel, vor allem ihr spürbarer Rhythmus und ihre genau berechneten Brüche, haben zu einem gedanklichen Kosmos rund um die junge Frau Dora geführt, die sich selbst nicht mehr spürt und sich deshalb auf die Suche nach sich selbst macht. Die in sich selbst hineinkippt, dabei alles und jeden unentwegt beschimpft und befragt – und am Ende doch keine Antwort erhält. Zumindest keine naheliegende…
OF: Wer ist Dora überhaupt? Wie ist sie charakterlich einzuordnen?
S: Dora ist eine echte Zeitgenossin. Man kann sie um die Ecke herum finden, in allen sozialen Gruppen und Zusammenhängen. Sie ist jung, aber auch nicht mehr jugendlich; sie hat Erfahrungen mit ihrer Umwelt gemacht, ist auf Distanz gegangen, befindet sich in grundsätzlicher Anti-Haltung zu allem und allen. Ihre Grundempfindungen sind Wut, Trotz und Trauer, darin spürt sie sich noch, teilt das aber mit niemandem mehr. Sie routiert, stagniert, existiert, mehr nicht.
OF: Ist Dora für Sie eine Heldin oder eine Antiheldin? Und warum?
S: Natürlich ist Dora eine Antiheldin – weil sie nichts kann und nichts weiß. Oder eben denkt, dass sie nichts kann und nichts weiß. Und diese Meinung allen entgegenschleudert, und das durchaus wortgewaltig!
OF: Worin besteht die Aktualität von Langs Oper Dora?
S: Alle Figuren in Dora, allen voran die Titel(anti)heldin, haben keine Antworten mehr auf ihre Fragen. Sie befinden sich im Leerlauf, sie kommen nicht mehr weiter. Sie sprechen auch nicht mehr miteinander, allenfalls über- oder gegeneinander. Das schafft ein allgemeines Klima der Unzufriedenheit, der Wut, der Gemeinheit, ja sogar des Hasses. Sündenböcke müssen her, andere sollen für das eigene Unwohlsein herhalten. Das alles macht die Grundatmosphäre von Dora leider brandaktuell.
OF: Was macht die hohe Qualität der Oper Dora aus?
S: Die Vielschichtigkeit der Sprache beider Autoren, insbesondere der Musiksprache. Die trotzdem immer vorhandene Texttransparenz. Der sogartige Rhythmus der komplexen und dennoch zugänglichen Musik. Die nachvollziehbaren und spannenden Figurenprofile. Und so weiter!
OF: Worin besteht die in der Oper mehrfach erwähnte Hybris von Dora?
S: Dora meint, mit allem und allen fertig zu sein und sich für nichts und niemanden mehr zu interessieren. Vordergründig agiert sie ignorant und stumpfsinnig. Dahinter verbirgt sich natürlich eine große Sehnsucht nach einem Gegenüber, das sie weiterbringt, ja vielleicht sogar erlöst…
OF: Warum erkennt Dora im zweiten Akt den Teufel nicht?
S: Sie rechnet mit etwas ganz anderem. Und ja eigentlich mit nichts. Ihre Teufelsbeschwörung geschieht genauso lapidar und nebenbei wie alles andere – da sie nichts mehr fokussiert, nichts mehr will.
OF: Im fünften Akt fleht Dora den Teufel an, sie aus ihrem ausweglosen Sein zu erlösen oder ihr wenigstens einen Rat zu geben. Wie kommt sie dazu, gerade den Teufel um so etwas zu bitten?
S: Der Teufel ist Doras einziges Gegenüber, das sie erreicht, das sich mit ihr auseinandersetzt. Sie reibt sich an dem, der sie nicht kalt, der ihr aber vor allem keine Ruhe lässt. Und das erscheint mir zutiefst menschlich. Denn schließlich hat der Teufel sie aus ihrer Apathie herausgeholt…
OF: In Ihrer Inszenierung der Dora lässt am Ende des dritten Aktes zuerst Berthold die Hose herunter. Wenig später legt auch Dora ihr grünes Kleid ab, das sie bis dahin getragen hat und es im Folgenden auch nicht mehr anlegt. Warum entledigen sich die beiden Hose bzw. Kleid?
S: Berthold wird vom Teufel aufgescheucht und dominiert, am Ende unterwirft er sich ihm. Die ganze Szene funktioniert wie eine Me-too-Situation, in welcher der Teufel Berthold in die Enge treibt und zutiefst demütigt. Das Hose-Herunterlassen erschien mir eine probate Reaktion auf diese Demütigung durch den übergriffigen Teufel. Dora hingegen häutet sich am Ende der Szene, will die Zuschreibung des grünen Kleids (in dem Berthold sie ja in seinem Traum imaginiert) abstreifen und damit ihr altes Ich loswerden. Anschließend steht sie in Unterwäsche da, neutralisiert sich also für einen kurzen Moment…
OF: Warum verwandelt sich im Schlussakt Dora in Faust und Berthold in Gretchen?
S: Offensichtlich enthält die Witzel‘ sche Narration von Anfang an dieses faustische Moment – nur dass eben eine Dora zur Faustine wird, indem sie den Teufel herausfordert. Das wollten wir im Schlussakt durch das eindeutig konnotierte, historische Kostüme (auch beim Teufel, der ja das Mephisto-Kostüm eines Gustaf Gründgens trägt) auf die Spitze treiben. In Dora wird Berthold vom Teufel als Köder benutzt, um Dora in Bewegung zu bringen – so wie es eben Mephisto tut, wenn er Gretchen Faust zuführt. Bei Goethe wird Gretchen zum Opfer des Teufelspakts, bei Witzel/Lang Berthold. Bestechend fanden wir natürlich, dass sich in unserem Stück die Geschlechter so eindeutig umkehren…
OF: Welche Funktion kommt den Videos in Ihrer Dora-Inszenierung zu?
S: Die Videos sind Doras innerer Film. Sie zeigen ihre inneren Bilder, ihre Assoziationen und Ängste, bilden ihr Unterbewusstsein ab.
OF: In Ihrer Konzeption verändern fast alle Beteiligten einschließlich des Chores irgendwann ihr Outfit, nur Doras Schwester trägt immer denselben violetten Hosenanzug. Was ist der Grund dafür, dass die Schwester im Gegensatz zu den anderen Personen nie ihre Kleider wechselt?
S: Ganz einfach: Doras Schwester bleibt sich treu. Während sich Eltern und Bruder in Doras Wahrnehmung auflösen, erlebt die Schwester ihre eigene Geschichte und wird entsprechend wohl auch eine eigene Zukunft haben. Sie ist ja auch die einzige, die bis zum Schluss empathisch bleibt. Diese Fähigkeit zum Mitgefühl hat sie als Figur ohnehin von Beginn an ausgezeichnet.
OF: Wie ist das Ende Ihrer Inszenierung zu deuten? Ist es ein positiver Schluss oder bleibt nicht vielmehr alles offen?
S: Am Ende ihrer Reise bleibt Dora nicht allein, sondern befindet sich zweisam mit Berthold. Beide stehen zum Schluss an einem Neuanfang, beide sind weit gereist und haben sich verändert. Ob daraus ein Zusammen wird, bleibt offen. Aber es ist möglich.
OF: Herzlichen Dank für das Interview.
Ludwig Steinbach, 10. Oktober 2024