Besuchte Aufführung: 16.2.2020 (Premiere: 2.2.2020)
Ästhetik der Gleichzeitigkeit
Zu einer interessanten Angelegenheit geriet die Neuproduktion von Boris an der Staatsoper Stuttgart. Hierbei handelt es sich um eine Kombination von Modest Mussorgski s Oper Boris Godunow mit der Auftragskomposition der Stuttgarter Staatsoper Secondheit-Zeit von Sergej Newski in der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt. Die Uraufführung von Secondheit-Zeit beruht auf dem gleichnamigen Roman der russischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und erklang in deutscher Sprache, der Boris Godunow wurde in der Urfassung von 1869, in der der Polen-Akt fehlt, gespielt und russisch gesungen.
Staatsopernchor Stuttgart und Kinderchor
Hier haben wir es praktisch mit einer Koexistenz der beiden Stücke zu tun. Geschickt werden die Szenen von Secondhand-Zeit in den Boris Godunow eingefügt. Newskis Musik erklingt immer da, wo Mussorgskis Partitur Leerstellen aufweist. Dabei werden die Übergänge von dem modernen Komponisten geschickt gemeistert. Wenn man den Boris Godunow nicht genau kennt, mag es hier und da manchmal schwierig sein, zu erkennen, wo Mussorgskis Musik endet und die von Newski beginnt. Secondhand-Zeit besteht aus einem Prolog, sechs Intermezzi und einem Epilog. Die einzelnen Szenen sind gleichsam als Erinnerungssplitter aufzufassen, die sich prächtig in die Zwischenräume der Tableaus des Boris Godunow einfügen (vgl. Programmbuch S.9). Newski verwendet in seiner Partitur praktisch denselben Orchesterapparat wie Mussorgski in seiner Oper. Das Schlagwerk ist indes erweitert worden und neben dem Klavier gibt es noch ein Harmonium. Die Sänger müssen ein breites stimmliches Spektrum aufweisen. Neben Sprechgesang und normalem Singen ist bei Secondhand-Zeit manchmal auch reines Sprechen angesagt. Über barocke Stilmittel müssen sie in gleicher Weise verfügen wie über einen dramatischen Gesangsstil. Daneben hat Newski auch ganz eigene vokale Stilmittel entwickelt, die es den Sängern nicht immer leicht machen. Anleihen beim Tango und Choral mögen noch leicht zu verkraften sein. Wenn der Komponist aber Ähnlichkeiten zu Zimmermanns Oper Die Soldaten heraufbeschwört, wird es ganz schön schwierig. Insgesamt setzt er stark auf Polyphonie.
Adam Palka (Boris Godunow), Carina Schmieger (Xenia/Die Geflüchtete)
Gesungen wird Secondhand-Zeit von sechs Figuren des Boris Godunow. Während sie bei Mussorgski nur eine Nebenrolle spielen, werden sie in Newskis Werk zu Protagonisten des Geschehens. So wird Grigori in Secondhand-Zeit zu dem jüdischen Partisanen, der auch als Kind und alter Mann zu sehen ist, Xenia zu der Geflüchteten, ihre Amme zu der Mutter des Selbstmörders, Fjodor zu einer Aktivistin, die Schenkwirtin zur Frau des Kollaborateurs und der Gottesnarr zu einem Obdachlosen. Diese Personen sind aus der großen Masse herausgelöst und geben einzeln Kunde von ihrem schweren Schicksal. Geschichte wird hier zu eindrucksvollen Nahaufnahmen ganz einfacher Leute. Nicht das Kollektiv wird hier beleuchtet, sondern Einzelschicksale von namenlosen Helden und Heldinnen, die man nicht in der Geschichtsschreibung findet. Deutlich wird, in welchem Ausmaß das private Leben der Handlungsträger von Secondhand-Zeit von der Politik verändert wird. Kleine Leute, die auf verschiedene Weise traumatisiert sind, werden auf diese Weise zu Richtern über die desolaten Umstände, in denen sie leben. Derart erhalten sie eine Parallelgeschichte. Den Protagonisten von Newskis Werk stellt Regisseur Paul-Georg Dittrich ein Reihe von Doppelgängern zur Seite, die in Live-Videos ihre ganz eigene Welt kreieren. Ihre Traumen, Sehnsüchte und Wünsche werden hier aufgezeigt. In Videoeinspielungen werden auch einige Politiker der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit sichtbar. Später werden namhafte Personen der Geschichte durch riesige Masken versinnbildlicht, die der Chor trägt.
Adam Palka (Boris Godunow)
In erster Linie interessiert den Regisseur das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihm kommt es nicht darauf an, ein historisches Panorama vorzuführen, vielmehr lenkt er seinen Blick auf die Gesetzmäßigkeiten, die im Lauf der Zeit immer wieder sichtbar werden. Nachhaltig zeigt er den Aufstieg von Boris Godunow und seinen Fall, wirft dabei aber gleichzeitig auch einen kritischen Blick auf die Leiden des Volkes. Jaki Tewes und Jana Findeklee haben ihm dafür einen Pavillon auf die Bühne gestellt, der mit Hilfe der häufig eingesetzten Drehbühne in die unterschiedlichsten Stellungen gebracht werden kann. Er ist gleichsam als Ruine eines sozialistischen Monomentalbaus (so die Bühnenbildnerinnen in einem Sonderheft der Deutschen Bühne zum Stuttgarter Boris) aufzufassen, die ein großes, wandfüllendes Mosaik aus der Sowjetunion prägt. Hier prallen zwei unterschiedliche historische Zeiten aufeinander, die in der Nachschau jeweils eine Zeit des Umbruchs darstellen. Die Zeit, in der der Boris Godunow uraufgeführt wurde, also das Jahr 1869, wird zur Zukunft, die Sowjetunion des 20. Jahrhunderts zur Vergangenheit. Das offenbart sich auch anhand der gelungenen Kostüme von Pia Dederichs und Lena Schmid. Hier wechseln sich goldener Brokat der Zarenzeit mit zeitgenössischen Kleidern ab. Die Zeit ist offenbar aus den Fugen geraten, Zukunft trifft auf Vergangenheit und umgekehrt. So entpuppt sich Geschichte als unausweichliche Wiederholung (so der Regisseur im eben schon erwähnten Sonderheft der Deutschen Bühne).
Adam Palka (Boris Godunow), Staatsopernchor Stuttgart
Offenkundig wird, dass die Gesellschaft soeben erst einer Katastrophe entronnen ist. Diese war ökologischer Natur, wie der riesige Ölteppich, der die Oberseite des Pavillons einnimmt, zeigt. Sie muss schrecklich gewesen sein, daran besteht kein Zweifel. Kein Wunder also, dass die Gemeinschaft sich weigert zurückzublicken und ihr Augenmerk nur auf die Zukunft richtet. Und darin liegt nach Ansicht von Paul-Georg Dittrich ein exorbitanter Fehler. Seiner Ansicht nach ist der Blick zurück in die Vergangenheit unerlässlich. Erinnerung ist ein ganz wesentlicher Punkt, den das Volk indes bewusst außer Acht lässt. Das ist hier aber immer schon so gewesen. Auch wenn gesellschaftliche Systeme sich ändern, werden die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen immer dieselben bleiben. Das hat der stark gebeutelte, unvorteilhaft gekleidete Pimen gut erkannt. Aus einer Versenkung, an die er mit Schläuchen gefesselt ist, emporsteigend, begehrt er dagegen auf. Unerbittlich protestiert er dagegen, dass die Gesellschaft nicht mehr in die Vergangenheit blickt und sich nur noch an der Zukunft orientiert. So kann sie aus der Geschichte nichts mehr lernen, was aber ganz essentiell ist und was Pimen versucht ihr beizubringen. Die Gemeinschaft will davon aber nichts hören und stößt ihn schließlich wieder in seine Versenkung zurück. Sie will einen Neuanfang und lehnt alles ab, was mit der Vergangenheit zu tun hat. Diese Zukunft ist hier fiktiv und dystopisch. Am Ende steht der achte Tag der Schöpfung – eine eindringliche Utopie, die hier beschworen wird. Insgesamt kommt es dem Regisseur darauf an, die Studie einer Gesellschaft zu zeigen, die es in der einen oder anderen Form schon einmal gegeben hat oder die in gar nicht so weiter Zukunft einmal existieren könnte (vgl. Programmbuch S.40). Am Ende lässt er den sterbenden Boris in dieselbe Kammer zurückgehen, aus der dieser zu seiner Krönung zum ersten Mal aufgetreten ist. Das war ein sehr stimmiger Regieeinfall. Der abschließende Epilog gehört ganz den Protagonisten aus Secondhand-Zeit, die darauf drängen, mit ihren Geschichten gehört zu werden, damit diese nicht in Vergessenheit geraten. Dabei werden sie von Dittrich oft im Zuschauerraum – in den Logen des ersten Ranges – positioniert. Mit Brecht kann der Regisseur umgehen, das muss man sagen. Insgesamt ist ihm eine durchaus interessante, sehenswerte Inszenierung gelungen, die stark auf eine Ästhetik der Gleichzeitigkeit setzt.
Petr Nekoranec (Gottesnarr/Der Obdachlose), Adam Palka (Boris Godunow), Pawel Konik (Schtschelkalow), Staatsopernchor Stuttgart, Kinderchor
Als Boris Godunow begeisterte der über einen großen, bestens gestützten und samtenen Bass verfügende Adam Palka, der seinem Part auch darstellerisch voll gerecht wurde. Ebenfalls über bestens fokussiertes Stimmmaterial und eine enorme Ausdruckspalette verfügte der Pimen von Goran Juric. Einen kraftvollen, gut fundierten Tenor brachte Matthias Klink für den Schuiski mit. Nichts auszusetzen gab es an dem tiefgründig und markant singenden Friedemann Röhlig in der Rolle des Warlaam. Neben ihm blieb Charles Sy als Missail und Leibbojar unauffällig. Schönes, volles und rundes Baritonmaterial brachte Pawel Konik für den Schtschelkalow mit. Sowohl Elmar Gilbertsson (Grigori, jüdischer Partisan) als auch Petr Nekoranec (Gottesnarr, Obdachloser) mangelte es in erheblicher Weise an der nötigen Körperverankerung ihrer Tenöre. Beide klangen ausgesprochen flach. In der Doppelrolle von der Schenkwirtin und der Frau des Kollaborateurs überzeugte mit sinnlicher Altstimme Stine Marie Fischer. Auch bei Maria Theresa Ullrich (Xenias Amme und Mutter des Selbstmörders) blieben keine Wünsche offen. Solide schnitt Carina Schmieger mit den Partien der Xenia und der Geflüchteten ab. Gut gefiel die tiefsinnig singende Alexandra Urquiola als Fjodor und Aktivistin. Ramina Abdulla-zadé und Urban Malmberg gaben den jüdischen Partisanen als Kind und alten Mann. Ricardo Llamas Marquez (Mikititsch und Offizier der Grenzwache) und Matthias Nenner (Mitjucha) rundeten das Ensemble ab. Ein Extralob gebührt dem von Manuel Pujol einstudierten Staatsopernchor und Extrachor der Staatsoper Stuttgart. Den gefälligen Kinderchor leitete Bernhard Moncado.
Secondhandzeit-Ensemble
Im Graben liefen Dirigent Titus Engel und das versiert aufspielende Staatsorchester Stuttgart zu großer Form auf. Zusammen erzeugten sie bei Mussorgskis Werk einen intensiven, feurigen und prägnanten Klangteppich. Auch die Oper Newskis wurde von ihnen trefflich zu Gehör gebracht. Hier überzeugte in erster Linie die Gegenüberstellung barockmäßiger und dramatischer Passagen.
Fazit: Die Verbindung von neuer und alter Oper ist vollauf gelungen. Ein Besuch der Aufführung lohnt sich!
Ludwig Steinbach, 17.2.2020
Die Bilder stammen von Matthias Baus